Hamburg. Wirtschaftskrise, Zuwanderung und Rechtsruck lasten nicht nur schwer auf dem Land, sondern auch auf dem Regierungsbündnis.
So viel Unruhe war seit Jahrzehnten nicht mehr im Land. Die Trecker sind gerade erst zurückgerollt, da gehen Millionen Menschen gegen den Rechtsruck in der Gesellschaft auf die Straße. Eine Demonstration, früher ein demokratisches Ausrufezeichen, wird zum Hintergrundrauschen einer aufgeregten Republik. Und machen wir uns nichts vor: Das Unbehagen, die Nervosität gründen nicht nur auf Gefühlen, sondern auf Fakten.
Das bundesdeutsche Erfolgsmodell, das uns über Jahrzehnte getragen hat, funktioniert nicht mehr. Lange hatte es sich die Bundesrepublik unter dem Nato-Schutzschirm bequem gemacht.
Deutschland in der Krise: Langsam geht es an die Substanz
Die Wirtschaft lebte von globalisierten Märkten, auf denen unsere Erfolgsprodukte der Automobil- und Chemiebranche reißenden Absatz fanden. Tempi passati; heute hat Deutschland die wachstumsschwächste Wirtschaft unter den großen Industriestaaten. Und die Energiewende schien so lange einfach, wie billiges russisches Gas nach Deutschland floss.
All das ist durch den Überfall Putins auf die Ukraine Geschichte, alte Sicherheiten gibt es nicht mehr, aber neue Unsicherheiten kommen jeden Tag dazu.
Die Ampel muss mehrere Probleme auf einmal anpacken
Es würde an ein Wunder grenzen, wenn eine Regierung in einer solchen Lage ungeschoren bliebe. Das Drama der Ampel ist, dass die drei Parteien ein faszinierendes Bündnis für gute Zeiten hätten sein können. Diese Geschäftsgrundlage ist seit dem 24. Februar 2022 passe. Für schlechte Zeiten ist diese Dreierkonstellation, die politische Mariannengräben überwinden muss, offensichtlich nicht geeignet.
Ein Tag, an dem es keinen Koalitionskrach gibt, kommt so selten vor wie ein Schalttag. Teile des Bündnisses aus SPD, Grünen und FDP tun sich schwer zu begreifen, dass sich die Zeitenwende nicht auf die Sicherheitspolitik beschränkt.
Zu nah am Koalitionsvertrag, zu wenig nah an der Realität
Sie würden gern so weitermachen, wie im Koalitionsvertrag verabredet: Zwar gibt es eine Energieknappheit mit steigenden Preisen, aber die Atomwerke wurden 2023 trotzdem stillgelegt; zwar gibt es einen Mangel an Arbeitskräften, trotzdem werden Transferleistungen über das Bürgergeld innerhalb von zwei Jahren um bis zu 25 Prozent erhöht; zwar gibt es in der Bevölkerung eine wachsende Kritik an der Migrationspolitik, aber Erleichterungen wie die vereinfachte Staatsbürgerschaft werden trotzdem auf den Weg gebracht.
Die Ampel steuert inzwischen langsam um, aber manchen ist das Parteiprogramm am Ende noch immer wichtiger als die Realität. Wenn die Wirklichkeit Einfluss ins Regierungshandeln findet, geht das oft nur über heftigen innenpolitischen Streit.
Das größte Opfer sind derzeit die Parteien der Ampel
Damit beschädigt die Ampel nicht nur das Land, sondern vor allem sich selbst: Die Umfragen sind ein Desaster, nur die extreme Rechte profitiert. Die FDP regiert sich als Teil der Koalition mehr und mehr in die außerparlamentarische Opposition; die Grünen halten sich scheinbar wacker, stecken aber in einem doppelten Dilemma: Ihr Ziel, Volkspartei zu werden, ist in weite Ferne gerückt – und wie Hessen zeigt, gelten die Grünen inzwischen als Koalitionspartner, auf den man am liebsten verzichtet.
Besonders hart trifft es die SPD, die in Umfragen gerade noch auf die Hälfte ihres Ergebnisses von 2021 kommt. Regieren geht an die Substanz. Durch das neue Bündnis Sahra Wagenknecht drohen weitere Verluste. Mit einer Verschärfung der Wirtschafts- und Migrationskrise werden linke Mehrheiten in Zukunft gänzlich unmöglich.
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Olaf Scholz und seine Partei haben nur eine Chance: sich an die Spitze der Zeitenwende zu setzen und erst einmal mehr (bittere) Realität wagen. Gerade die SPD hat eigentlich nichts mehr zu verlieren.