Hamburg. Hamburger wegen sexuellen Missbrauchs vor Gericht. Er bandelte im Netz mit sehr jungen Mädchen an und gab sich als 16-Jährige aus.
Das Handy war ein Geschenk zu Ostern. Und Vivian (alle Namen geändert) hat vieles darauf ausprobiert. Chatten mit Freunden, Videos auf TikTok und YouTube anschauen, immer weitere Apps herunterladen: Plötzlich schien der Zwölfjährigen eine ganz neue Welt offenzustehen. Doch mit dem Freiraum kam auch die Gefahr – eine Bedrohung, die Vivian erst nach und nach bewusst wurde: Die Schülerin wurde zum Opfer.
Cybergrooming nennen Experten das, was Vivian und anderen sehr jungen Menschen zustoßen kann. Auf speziellen Onlineplattformen suchen Männer Kontakt zu ihnen, schreiben sie gezielt an, um an Nacktbilder und sexualisierte Videos zu kommen – Kindesmissbrauch in digitaler Form also. Die Aufnahmen werden teilweise weitergereicht, an andere Nutzer mit ähnlichen Neigungen. „Ich wollte das nicht“, sagte Vivian später bei der Polizei. Sich auszuziehen und vor der Kamera nackt zu posieren kam ihr nicht richtig vor. Gleichwohl hat sie es getan. Weil sie auf einer Onlineplattform dazu gedrängt wurde. Jetzt musste sich deswegen ein Mann im Prozess vor dem Schöffengericht Hamburg verantworten.
Prozess Hamburg: 26-Jähriger machte sich über Internet an Kinder heran
Die Person, die Vivian im Jahr 2019 diese Aufnahmen abverlangt hat, gab sich als 16 Jahre alte Schülerin aus. Tatsächlich aber war es ein damals 26 Jahre alter Mann, der unbedingt Nacktbilder von jungen Mädchen sehen wollte. Dieser Typ hat sich über einschlägige Foren nicht nur an Vivian herangemacht, sondern auch noch an eine Neunjährige, von der er ebenfalls sexualisierte Bilder einforderte. Jetzt sitzt dieser Mann auf der Anklagebank. Die Staatsanwaltschaft wirft dem Hamburger unter anderem sexuelle Nötigung, sexuellen Missbrauch von Kindern sowie das Herstellen kinderpornografischer Schriften vor.
Neunjährige sollte einen „sexy Strip“ machen und auf Video aufnehmen
Im Einzelnen ist Martin R. angeklagt, sich in der Onlineplattform „Live.me“ im November 2019 als 16-Jährige ausgegeben und eine damals Neunjährige unter anderem aufgefordert haben, sie möge doch einen „sexy Strip“ machen und ihm davon einen Film schicken. „Du würdest mich damit so geil machen“, hieß es demnach in der Chat-Nachricht. Daraufhin habe sie ihm entsprechende Videos übermittelt.
Schon ein Jahr zuvor ist es laut Anklage zu einer ähnlichen Tat gekommen: Damals soll Martin R. als angeblich 14 Jahre alte „Sabrina“ eine Zwölfjährige kontaktiert und diese aufgefordert haben, von sich ein Video zu schicken, auf dem sie nackt tanzt. Teilweise soll der gelernte Einzelhandelskaufmann mit einem weiteren Mann, einem gesondert verfolgten 64-Jährigen, gemeinsame Sache gemacht haben.
Angeklagter will, dass „so was nicht wieder vorkommt“
Martin R. ist ein zierlicher Mann mit Dreitagebart, der mit Fußfesseln im Gerichtssaal sitzt. Mit zaghafter Stimme räumt der 32-Jährige ein, dass er sich als Jugendliche ausgegeben, Videos mit sexualisiertem Inhalt verschickt und ähnliche eingefordert hat. Sein Mandant „hat oder hatte die Neigung, an jüngeren Mädchen interessiert zu sein“, erklärt sein Verteidiger für ihn. Allerdings habe der Angeklagte mittlerweile eine Freundin, die 26 Jahre alt sei. Zudem wolle Martin R. sich professionelle Hilfe suchen, „damit so was nicht noch mal vorkommt“. Er wisse heute, dass das, was er getan hat, „schädigend für die Psyche“ der Opfer sei, erzählt der Angeklagte selber. Er habe eingesehen, dass es „falsch war“.
Für Vivian war es zunächst eine Art Abenteuer. Bei einer Zeugenvernehmung bei der Polizei hat sie erzählt, wie sie damals auf ihrem neuen Handy eine App heruntergeladen hat, „obwohl ich das eigentlich nicht darf“, weil ihre Mutter das nicht wollte. Doch diese App „Live.me“ habe sie „interessiert, weil man da schnell viele Herzen kriegt“, Zuspruch also, der ihr zunächst gutgetan habe. Doch dann schickte ihr eine angebliche „Sabrina“ Videos, wo sie „den Po in die Kamera hält“. Und von einem Typen, der sich Dennis nannte, kamen Filme, bei denen ein Mann sich selber befriedigt. „Er sagte, ich solle mich ausziehen“ und selber ähnliche Videos von sich drehen, erzählte Vivian weiter. „Ich wollte das nicht.“ Doch dann sei ihr über die Plattform gedroht worden, dass man Lügen über sie erzählen werde, wenn sie nicht spurt. Daraufhin schickte die Zwölfjährige selber Filme.
Neunjährige hat Angst, dass sie entführt werden könnte
Der neunjährigen Clara ging es ähnlich, nachdem sie sich bei der App „Live.me“ registrieren ließ und dann über Internet kontaktiert wurde. Auch bei ihr war es angeblich eine 16-Jährige, die sie aufforderte, unbekleidet vor der Kamera zu posieren und die Filmchen zu verschicken. Sie habe sich zu den Videos „gezwungen gefühlt“, erzählte das Kind einige Monate später bei der Polizei. Es habe jetzt verstanden, dass das „gefährlich sein könnte“. Und das Mädchen lasse sich nun immer von Freundinnen nach Hause begleiten, weil es „Angst habe, dass mich doch jemand entführen“ könne.
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Diese Gefahr bestand offenbar nicht. Was weder Vivian noch Clara wissen konnten: Der Mann, der sie über Live.me kontaktiert hatte, zog wenig später nach Thailand und lebte dort mehrere Jahre lang. Doch als er schließlich per Haftbefehl gesucht wurde, kam er in dem südostasiatischen Land zunächst hinter Gitter.
So zögerlich Martin R. bei der Darstellung seiner Taten mit Worten umgeht, so erstaunlich lebhaft wird der Angeklagte, wenn es darum geht, seine damaligen Haftbedingungen zu schildern. Er habe 36 Tage lang mit etwa 150 anderen Männern auf engstem Raum leben müssen, etwa ein Quadratmeter für jeden, „wie die Sardinen“, nennt Martin R. dies. Es habe für alle Gefangenen zusammen nur zwei Toiletten und eine Dusche gegeben. Im November vergangenen Jahres wurde er nach Deutschland abgeschoben, kam hier direkt in Untersuchungshaft.
Gericht verhängt zwei Jahre und fünf Monate Freiheitsstrafe
Im Plädoyer betont der Staatsanwalt, es spreche gegen den Angeklagten, dass es sich um sehr junge Opfer handelte und Martin R. mehrere Dateien mit kinderpornografischem Inhalt verschickt und eingefordert hatte. Zudem könne er bei dem Angeklagten eine „wirkliche Unrechtseinsicht nicht erkennen“, so der Ankläger, der zweieinhalb Jahre Freiheitsstrafe fordert. Der Verteidiger plädiert indes auf eine Bewährungsstrafe von einem Jahr, unter anderem, weil sein Mandant mit dessen Geständnis den jungen Opfern erspart habe, vor Gericht eine erneute Aussage zu machen.
Das Schöffengericht folgt im Urteil im Wesentlichen der Staatsanwaltschaft und verhängt zwei Jahre und fünf Monate Freiheitsstrafe. Gegen den Angeklagten spreche unter anderem die „Intensität der Tateinwirkung“. Der Haftbefehl gegen Martin R. bleibt bestehen. Sehr wahrscheinlich wird er in Berufung gehen.