Hamburg. Die KinderDocs wissen, was hinter der Störung steckt und wie Kindern geholfen werden kann. Sie räumen mit verbreiteten Irrtümern auf.

ADS oder ADHS – also das Aufmerksamkeitsdefizit-Syndrom mit oder ohne Hyperaktivität –ist in aller Munde. Eltern wenden sich häufig an Kinderärzte, wenn sie vermuten, dass ihr Kind betroffen sein könnte. Aber was steckt hinter diesem Syndrom, wie wirkt es sich aus und was hilft Betroffenen, Alltag und Schule gut zu meistern? Claudia Haupt und Charlotte Schulz vom Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte in Hamburg geben Antworten – und räumen mit einigen Mythen auf.

„Hinter diesen Buchstaben verbirgt sich letztendlich eine Verhaltensstörung bei Kindern, Jugendlichen und auch Erwachsenen“, sagt Claudia Haupt, Kinderärztin in Blankenese. Auffälligkeiten gibt es in drei Kernbereichen: Es zeigt sich eine starke Aufmerksamkeits- und Konzentrationsschwäche, große Impulsivität beziehungsweise eine fehlende Impulskontrolle und eine ausgeprägte körperliche Unruhe. Haupt ist wichtig: „Eine ausschließlich negative Sichtweise wird den Betroffenen überhaupt nicht gerecht, denn mit dieser Impulsivität geht auch oft besondere Spontaneität und Kreativität einher.“

KinderDocs: Hinter ADS steckt eine Filterstörung

Was ihr Leben schwer macht, ist die Filterstörung, die hinter ADS steht. Jeder Mensch wird praktisch permanent überschwemmt mit Reizen – was wir sehen, hören, fühlen, riechen, schmecken, wie man sich im Raum bewegt. Bestimmte Zentren im Gehirn sorgen dafür, dass die allermeisten Reize herausgefiltert werden, damit wir uns auf Wichtiges richtig konzentrieren können. Von ADS Betroffenen fehlen bestimmte Filter.

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„Man ist also im Prinzip permanent von Reizen überflutet und kann kaum über längere Zeit den Fokus auf eine bestimmte Tätigkeit halten“, sagt Kinderärztin Charlotte Schulz. Das zeigt sich beispielsweise im Klassenraum, in dem 28 Schüler sitzen: Einer spitzt den Stift an, der nächste lässt ein Radiergummi fallen, zwei Kinder tuscheln, draußen fährt ein anderes mit dem Rad vorbei – da fällt es schwer, sich auf den Lehrer und das Unterrichtsgespräch zu konzentrieren.

ADS kann vererbt werden – welche Faktoren noch eine Rolle spielen

Dahinter steht eine verminderte Verfügbarkeit bestimmter Botenstoffe im Gehirn in Zentren, die für Aufmerksamkeit und Impulskontrolle verantwortlich sind. Wichtig ist eine genetische Komponente, sprich: Es wird vererbt. Komplikationen bei der Geburt können ebenfalls dazu beitragen, auch Frühgeborene sind häufiger betroffen. Umwelteinflüsse können sich auswirken. „Wenn das soziale Umfeld, insbesondere die familiäre Struktur belastet ist, wird es wahrscheinlicher, dass sich die Störung entwickelt.“

Die betroffenen Kinder und Jugendlichen sind oft aufbrausend, himmelhoch jauchzend und dann wieder zu Tode betrübt. Kommt Hyperaktivität dazu, sind Kinder fast permanent in Bewegung, können schlecht stillsitzen. Das ständige Anecken, das negative Feedback ihrer Umgebung, geht auf die Kinderseelen, kann zu Selbstwertproblemen führen. Nicht selten isolieren sich die betroffenen Kinder. „Und Kinder mit ADHS können aufgrund ihres impulsiven Verhaltens deutlich häufiger Unfälle haben“, sagt Charlotte Schulz.

KinderDocs klären auf über Irrtümer zu ADS

Es gibt aber auch viele Irrtümer. Dazu gehört, dass ADS und ADHS heute stärker verbreitet seien als früher: „Die Zahl der nach strengen Diagnosekriterien ausgewiesenen Fälle nimmt nicht zu. Sie sind seit sehr vielen Jahren recht stabil bei 3 bis 5 Prozent.“ Jungen sind zwei- bis viermal häufiger betroffen als Mädchen. Aber: Es gibt tatsächlich mehr Kinder und Jugendliche, die allgemein Verhaltensauffälligkeiten zeigen, also gestörte Impulskontrolle oder hyperaktives Verhalten oder ein problematisches Sozialverhalten. Sie haben aber nicht im strengen Sinne ADS. „Nicht jedes zappelige Kind, das kaum zwei Minuten am Tisch sitzen kann, hat ein Aufmerksamkeits-Hyperaktivitätssyndrom.“

Moderne Unterrichtsformen helfen den Betroffenen zudem nicht, sondern erschweren eher ihre Lage. Gruppenarbeit, Wochenpläne, wechselnde Tischordnungen, die pädagogisch sehr sinnvoll sein können, sorgen bei Kindern mit ADS für noch mehr Reize und eine zusätzliche Belastung. „Der Frontalunterricht vergangener Zeiten kam ihnen vermutlich mehr entgegen“, sagt Claudia Haupt.

ADS: Was man zum Medikament Ritalin wissen muss

Viele Mythen gibt es auch zum Medikament Ritalin. „Erster Fakt: Es ist kein Beruhigungsmittel, die Kinder werden nicht sediert“, sagt Claudia Haupt. Das Medikament sorgt dafür, dass mehr Botenstoffe im Aufmerksamkeitszentrum des Gehirns verfügbar sind, sodass Reize besser herausgefiltert werden können. Und: „Es macht nicht abhängig. Die Wirkstoffe fluten komplett ab, es entsteht kein Spiegel“, so Schulz.

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Manche Kinder brauchen Ritalin nur an den Schultagen, nicht am Wochenende. Langzeitfolgen sind nicht zu befürchten, es kann ohne Probleme wieder abgesetzt werden. „Man muss sich wegen dieses Medikaments, wenn es mit guter Indikation in richtiger Dosierung unter ärztlicher Kontrolle verschrieben wird, keine Sorgen machen.“

KinderDocs: Warum ADS-Kinder stundenlang Videospiele spielen können

Kinder, die stundenlang bei einem Videospiel sitzen können, müssten eigentlich auch dem Unterricht folgen können – ein weiterer Irrtum. Das Gehirn hat mehrere Wege, Aufmerksamkeit zu steuern. Haben Kinder große Lust auf ein Videospiel, sind also intrinsisch motiviert, übernehmen andere botenstoffunabhängige Aufmerksamkeitszentren im Gehirn das Handeln. Auch automatisierte Prozesse, ähnlich wie beim Autofahren, das man nach einer Weile ohne nachzudenken beherrscht, funktioniert unabhängig von dem spezifischen Aufmerksamkeitssystem. „Daran knüpft auch ein therapeutischer Ansatz an“, sagt Charlotte Schulz.

Welche Verhaltensweisen schon im frühen Kindesalter auf ADS hindeuten können, wo Eltern Rat bekommen, wie die Diagnostik funktioniert, welche Trainings- und Lernstrategien erfolgreich sind, erzählen die KinderDocs im gleichnamigen Abendblatt-Podcast.