Hamburg. Rechnerisch sitzen in jeder Schulklasse zwei Betroffene. Wie man Legasthenie feststellt, was hilft und was nicht ratsam ist.

Der Aufsatz ist in mehrerer Hinsicht außergewöhnlich: Auf zwei Seiten erzählt ein Viertklässler darin die fantasievoll geschriebene Geschichte eines Campingabenteuers. Das Stück hat einen schönen Spannungsbogen und ein überraschendes Ende. Alles gut, also. Einerseits. Andererseits ist jede Zeile des Textes praktisch komplett rot markiert. In jedem zweiten Wort hat die Lehrkraft einen Rechtschreibfehler angestrichen; kaum ein Zeichen ist korrekt gesetzt. Die Bewertung bezeugt ein einziges Defizit, hinter dem der Inhalt der Geschichte völlig verschwindet. Der Viertklässler ist frustriert, seine Eltern ratlos.

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Mit Schulheften wie diesen kommen sie zur Kinderärztin oder zum Kinderarzt. Dahinter steht auch in diesem Fall eine Lese-Rechtschreib-Schwäche, als Legasthenie bekannt. Wenn Kinder Lesen und Schreiben lernen, ist die Schrift für sie anfangs ein unverständlicher „Code“, bestehend aus vielen unbekannten Symbolen. Sie müssen ihn nicht nur lernen, sondern auch verinnerlichen und automatisieren. Für Kinder mit Lese-Rechtsschreib-Störung bleibt der Code ein Rätsel, das immer aufs Neue schwer zu lösen ist. Zwischen sieben und zehn Prozent der Schülerinnen und Schüler sind betroffen. „In jeder Klasse sitzen rechnerisch zwei Kinder, die es betrifft“, sagt Claudia Haupt, Vorsitzende des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärztinnen Hamburg.

KinderDocs: Legasthie wirkt sich auf viele Schulfächer aus

Oft dauert es eine Weile, bis die Ursache der Schwierigkeiten ergründet ist. Denn die Probleme beim Schreiben, gerade aber auch beim Lesen, dem schnellen Erfassen von Texten, wirken sich meist in fast allen Schulfächern aus. Das Kind kann vielleicht rechnen, ist aber trotzdem schlecht in Mathe, weil es die Textaufgabe schon mal gar nicht versteht. Erst nach und nach wird der Grund für die Schulprobleme deutlich.

Oftmals steht dahinter eine Sprachentwicklungsstörung in jungen Jahren, die im Schulkindalter zwar beim Sprechen nicht mehr auffällt, sich aber auf die Anwendung von Sprache, zum Beispiel das Buchstabieren, Lesen und Schreiben auswirkt, wie Judith zu Eulenburg weiß. Die Sprachheilpädagogin betreibt eine Praxis für Lese-Rechtschreib-Therapie in Hamburg. „Die Gründe für eine Lese-Rechtschreib-Störung sind ganz unterschiedlich, weshalb sich erfahrene Therapeutinnen das einzelne Kind sehr genau anschauen müssen“, sagt sie.

Bildschirm – was den Spracherwerb stark behindert

Eines aber gilt für alle: In der Phase des Spracherwerbs lernen Kinder vom sozialen Miteinander, indem sie Sprache benutzen, sich darin ausdrücken, ihren Wortschatz erweitern. „Wenn wir Kinder einfach permanent vor einem Bildschirm parken, dann hört das Kind zwar viele Worte, benutzt die Sprache aber selbst kaum – und das macht viel aus“, sagt Kinderärztin Charlotte Schulz, Sprecherin des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte Hamburg. Also: Auch deshalb sollten Kinder nicht viel Zeit vor Bildschirmen verbringen.

Bei Kindern, in denen ein Elternteil oder Geschwister selbst betroffen sind, sollte man besonders gut hinschauen. Besonderes Augenmerk ist auch geboten, wenn Kinder sich nicht für das Lesen erster Wörter beispielsweise im Straßenverkehr interessieren oder nach Schulbeginn sehr lange brauchen, um die einzelnen Buchstaben zu lernen oder Laute zu differenzieren. Auch Silben hören und Reime finden kann schwierig sein.

Kinder erleben Stress, Familien geraten unter Druck

Kinder fühlen sich dann ohnmächtig, sie reagieren häufig mit Bauchschmerzen oder Schlafstörungen, sind unruhig, teilweise aggressiv. Dass sie in der Entwicklung schon jetzt hinterherhinken, macht ihnen Stress. „Sie erleben das als eine permanente Inkompetenz – und das wirkt in die Familie hinein, die unter Druck gerät“, sagt Kinderärztin Haupt.

Die Kinder mühten sich extrem ab, und das bindet so viel Energie, dass nicht mehr genug für andere Sachen übrig ist. „Da braucht es eine richtige Leistungsdiagnostik, um herauszubekommen, worin das Problem tatsächlich liegt.“

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KinderDocs: An Hamburger Schulen wird der Schnabel-Test eingesetzt

An Hamburgs Schulen wird der sogenannte Schnabel-Test, ein standardisierter Rechtschreibtest, eingesetzt. Auffällig werden die Probleme meist gegen Ende der ersten Klasse. Aber: „Es gibt viele Kinder, die die Schwäche sehr, sehr lange kompensieren“, schildert Judith zu Eulenburg. Sie hat ein Kind betreut, das sogar den Lesewettbewerb ihrer Schule gewonnen hat. Das Mädchen hatte das Buch auswendig gelernt und es dann frei vorgetragen.

Aber welche Lösungen gibt es? „Wichtig ist zunächst einmal eine umfassende kognitive Leistungsdiagnostik“, sagt zu Eulenburg. Die machen Kinder- und Jugendpsychiater sowie Psychotherapeuten. Was Eltern und was Lerntherapeuten erreichen können, wie eine Teilleistungsstörung anerkannt wird und wann es in der Schule einen Nachteilsausgleich für die Legasthenie gibt, wie das Kind wieder Selbstbewusstsein entwickelt und man ihre Stärken stärkt, berichten die drei Expertinnen im Podcast Die KinderDocs. .„Wir können sehr früh sehr gut helfen“, sagt zu Eulenburg, „je später die Hilfe einsetzt, desto schwieriger wird es.“