Hamburg. Bei den Schuleingangsuntersuchungen fallen 75 Prozent der Kinder gesundheitlich auf und „flutschen“ nicht mehr durch. Die Folgen.

  • Immer mehr Schulkinder in Hamburg haben gesundheitliche Probleme
  • Chronische Erkrankungen wie Asthma oder ADHS nehmen zu
  • Zugleich gibt es personelle Probleme bei den Schulärzten

Dr. Mario Bauer macht seine Arbeit schon ziemlich lange. Und sie sei mit den Jahren nicht einfacher geworden, sagt der Landessprecher für Kinder- und Jugendgesundheitsdienst im Landesverband der Ärzte des öffentlichen Gesundheitsdienstes e. V. (LVÖGD). In dessen Aufgaben fällt der schulärztliche sowie der schulzahnärztliche Dienst und die Mütterberatung. Gemeinsam mit Dr. Jürgen Duwe, Vorsitzender des Landesverbandes Hamburg des LVÖGD, schlägt Dr. Bauer Alarm: Denn immer mehr Schulkinder haben unabhängig von der akuten Infektwelle gesundheitliche Probleme.

Wenn bei einem Kind bei der Schuleingangsuntersuchung keine gesundheitlichen Probleme festgestellt werden, nennen er und seine Kolleginnen und Kollegen sie „Flutsch-Kinder“, sagt Bauer. Sie flutschen also durch. Doch davon gebe es nicht mehr so viele. „Vor zehn Jahren hatten wir 70 Prozent Flutsch-Kinder. Jetzt haben wir noch 25 Prozent. Und von den 75 Prozent Schulkindern, die einen medizinischen Bedarf haben, hat ein Drittel sogar einen deutlichen Bedarf.“

Schule Hamburg: Ärzte schlagen Alarm – immer mehr Schüler haben Defizite

In den vergangenen Jahren zeigten sich bei vielen Kindern Entwicklungsauffälligkeiten. Darunter seien auch viele Flüchtlingskinder und um diese müsse man sich auch dringend kümmern, sagt der Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin. „Wir müssen dafür sorgen, dass sie in die ambulante Versorgung der Kinderärzte kommen. Es sind viele Kinder dabei, die in ihrem Heimatland keine Vorsorge hatten.“

Oft sei ihr Seh- oder Hörvermögen eingeschränkt, aber nie diagnostiziert worden. „Ich habe beispielsweise gerade zwei Kinder aus der Ukraine untersucht, die sich in der Schule nicht beteiligt haben. Nun ist herausgekommen, dass sie nicht gucken können.“ Unter den Kindern in Deutschland hätten hingegen 98 Prozent die U8- und U9-Untersuchungen beim Kinderarzt absolviert.

Schuleingangsuntersuchungen: Vorgesehene Zeit reicht nicht aus

Die Schuleingangsuntersuchungen seien bei jedem Kind vorgeschrieben. Für eine solche Untersuchung mit Vorbereitung und ärztlicher Einschätzung hätten er und seine Kolleginnen und Kollegen in den Bezirken jeweils 60 Minuten Zeit, für Kinder mit besonderen Bedarfen seien es 90 Minuten. Das reiche häufig nicht.

Untersucht werden die Kinder ab August/September des Vorjahres, ehe sie eingeschult werden, so Bauer. Für eine regelhafte Nachsorgeuntersuchung von Kindern mit chronischen Erkrankungen oder besonderen Bedarfen in der 1. Klasse gebe es jedoch keine Kapazitäten.

Schulkindern haben häufig chronischen Krankheiten wie Asthma oder ADS

Dabei hätten chronische Erkrankungen Auswirkungen auf das Schulleben. Kinder mit Asthma, Epilepsie, ADS, ADHS oder auch mit psychosomatischen und psychischen Beschwerden sowie geistiger Behinderung hätten spezielle Bedarfe. Dazu gehörten auch Kinder mit Allergien oder jene mit Übergewicht. „Stoffwechselstörungen können auch auf die Hirnleistung wirken“, sagt Duwe. Und wenn ein Kind ständig über Kopfschmerzen klage, müsse dem nachgegangen werden. Es sollte auch einen Sehtest machen, sagt sein Kollege Bauer.

Der Fokus bei den Schuleingangsuntersuchungen liege darauf, ob ein Kind schulfähig ist. Von chronischen Erkrankungen Kenntnis zu bekommen, hänge auch von der Mitteilung der Eltern ab und sei manchmal auch Glücksache. Eine Verzahnung von Kita und Schule mit allen Institutionen müsse optimaler gestaltet werden, damit das eben nicht passiere, finden die Ärzte.

Mehr Schüler, aber nicht mehr Ärzte für Schuleingangsuntersuchung

Erschwerend komme hinzu, dass die Schuleingangszahlen in den vergangenen Jahren stetig gestiegen seien, das Personal in den Gesundheitsämtern aber nahezu gleichgeblieben sei, sagt Bauer, der im Gesundheitsamt Hamburg-Nord arbeitet. So habe es in Hamburg im Jahr 2006 noch 15.100 Einschulungen gegeben, im Jahr 2022 schon 19.464 Einschulungen.

Doch obwohl die Schuleingangsuntersuchung vorgeschrieben ist, rutschen einige Kinder durch – so seien 2006 nur insgesamt 12.200 Kinder der 15.100 untersucht worden und im Jahr 2022 16.185 von 19.464 Kindern.

Der schulärztliche Dienst müsse sich wegen der wachsenden Schülerzahlen seit längerer Zeit überwiegend auf die Eingangsuntersuchungen konzentrieren, es bleibe zu wenig Zeit für andere Aufgaben wie etwa Sprechstunden an Schulen, Angebote an Elternabenden oder Sprechtagen, Klassenbesuche, die Unterstützung bei Schulprojekten zur Gesundheitsförderung oder vermittelnde Gespräche mit Eltern und Schulen.

In manchen Schulen gibt es anlassbezogen runde Tische

Eine gute Zusammenarbeit sei aber notwendig: „Schulen haben die Möglichkeit, sich schulärztlich beraten und Kinder untersuchen zu lassen. Wir suchen dann nach Lösungen für die Kinder, Eltern und Schulen“, sagt Bauer. Zunehmend werde in Schulkonferenzen darauf hingewiesen, dass der schulärztliche Dienst Hilfen und Unterstützung anbiete, weil die Schulen diese Möglichkeiten gar nicht kennen. „Und in einzelnen Schulen haben wir anlassbezogen runde Tische.“

Deshalb findet es Dr. Duwe besonders wichtig, dass jedes Kind früh bei einem Kinderarzt angebunden ist: „Aber es gibt immer weniger niedergelassene Kinderärzte.“ Dazu komme, dass in Hamburg die Hälfte der niedergelassenen Kinderärztinnen und -ärzte 58 Jahre und älter sei und damit absehbar nicht mehr zur Verfügung stehe.

Schule Hamburg: Mehr als 20.000 Kinder werden in sechs Jahren eingeschult

Auch die Arbeit für die Schulärzte werde in Zukunft absehbar schwieriger, sagt Mario Bauer, weil die Anzahl der zu untersuchenden Kinder weiterwachse. Von den 23.400 Geburten im Jahr 2023 werden absehbar zwischen 21.000 und 22.000 Kinder in einigen Jahren in Hamburg eingeschult. „Daraus wird klar: Wir müssen immer mehr Kinder in immer kürzerer Zeit untersuchen, weil die personellen Ressourcen fehlen.“

Bei einer Halbtagsstelle seien etwa drei bis vier Schuleingangsuntersuchungen pro Tag zu schaffen, wenn man sonst keine Aufgaben übernimmt, sagt Bauer. Und selbst, wenn man wollte, wäre es schwierig, Personal zu finden. Teilzeitstellen seien noch verhältnismäßig einfach zu besetzen, bei Vollzeitstellen sei es schwieriger – weil Ärzte in Kliniken deutlich besser bezahlt werden. „Auch wir brauchen in unserem Bereich Fachärzte. Man muss zugeben, dass wir ein Problem haben. Es ist zunehmend ein defizitäres System. Die Kapazitäten für gelungene Inklusion reichen nicht.“

Eltern haben oft Mühe, Schulbegleiter für Kinder zu finden

Bauer fordert daher eine öffentliche Diskussion darüber, wie Kinder gefördert werden, wenn Eltern keine Schulbegleiter für diese finden. Oft gebe es das Problem vor allem in der Nachmittagsbetreuung. Die Einführung der sogenannten Verfahrenslotsen im Jahr 2024 sei ein Weg in die richtige Richtung. „Jedes behinderte Kind mit Teilhabeeinschränkungen hat darauf Anspruch“, sagt Bauer. Diese neuen Mitarbeiter sollen Eltern beraten und ihnen helfen, die Ansprüche ihrer Kinder durchzusetzen.

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Kinderarzt Bauer wundert sich auch nicht über die schlechten Pisa-Ergebnisse in Hamburg. Der 53-Jährige sieht einen Grund dafür im riskanten Medienumgang gerade vieler junger Eltern. „Knapp 20 Prozent der Mütter konsumieren nach einer Studie ‚Bildschirmfrei bis drei‘ weit über vier Stunden pro Tag Medien. Die Bücher von Buchstart werden weniger nachgefragt.“ Seit Anfang 2007 erhält jedes einjährige Kind in Hamburg seine eigene Buchstart-Tasche von den Kinderärztinnen und -ärzten bei der Gesundheitsuntersuchung U6 (10 bis 12 Monate).

Mit dem Kind zu sprechen und ihm vorzulesen, sei aber die Ausgangsposition für eine gute Entwicklung, sagt Bauer. Die motorisch-sprachliche Entwicklung leide sonst. „Man darf dem Kind nicht einfach das Handy oder Tablet in die Hand drücken.“ Duwe betont, das sei kein Thema einer bestimmten Gesellschaftsschicht, „das ist auf allen Ebenen zu beobachten“.