Hamburg. Medizinische Versorgung für 9000 kleine Patienten in Billstedt in Gefahr. „Können nicht jahrelang Defizit erwirtschaften.“

In Billstedt drohen knapp 9000 Hamburger Kinder ihre medizinische Versorgung zu verlieren. Aus finanziellen Gründen steht die Kinderarztpraxis im Medizinischen Versorgungszentrum (MVZ) vor dem Aus. Der Betreiber, der Rahlstedter Allgemeinmediziner Dr. Bastian Steinberg, sagte dem Abendblatt: „Wenn wir keine Unterstützung bekommen, müssen wir die Praxis schließen. Wir können nicht jahrelang ein Defizit erwirtschaften.“ Die Praxis wird mit drei angestellten Ärztinnen betrieben, die nicht in Vollzeit arbeiten.

Steinberg sagte, er habe die Kassenärztliche Vereinigung (KV) auf die Situation aufmerksam gemacht und sich an Sozialsenatorin Melanie Schlotzhauer (SPD) gewandt. Die Behörde habe ihm erklärt, die KV könne der Praxis mit Mitteln aus dem Strukturfonds helfen.

Für eine kurzfristige Sicherung der Liquidität hat die KV Steinberg angeboten, einen Vorschuss auf Honorare zu geben, die normalerweise erst Monate später ausgezahlt werden. Steinberg sagte, das reiche nicht. Die Praxis werde im Januar ein sechsstelliges Defizit haben. Er schieße seit Jahren Geld hinzu, um den Betrieb aufrechtzuerhalten.

Kinderarzt in Hamburg: Praxis in Billstedt vor dem wirtschaftlichen Aus

Der wichtigste Grund für die Situation der Praxis liegt nach Steinbergs Worten darin, dass der Aufwand, den die Ärztinnen dort betreiben, buchstäblich nicht ausreichend honoriert werde. Acht von zehn Kindern dort sprechen ebenso wenig Deutsch wie ihre Eltern. Die Untersuchungen und Behandlungen erfordern erheblich mehr Zeit als in anderen Stadtteilen. Steinberg spricht von etwa 30 Prozent mehr pro Kind.

Das bedeutet, dass die Praxis per se weniger Patienten innerhalb der Öffnungszeiten hat als andere. Dolmetscher für die Familien mit Migrationshintergrund werden nicht bezahlt. Mütter und Väter kennen oft das deutsche Gesundheitswesen nicht. Steinberg sagte: „Wenn man eine Überweisung ausstellt, wissen die Eltern oft nicht, was das bedeutet.“

Ärzte sind in Hamburg-Billstedt Beschimpfungen und Aggressionen ausgesetzt

Die sogenannten U-Untersuchungen, bei denen in regelmäßigen Abständen die Fortschritte in der Kindesentwicklung dokumentiert und zum Beispiel Impfungen vorgenommen werden, benötigen nahezu die doppelte Zeit. „Was in anderen Stadtteilen wie Barmbek in 20 Minuten geht, braucht in Billstedt 35 Minuten.“

Für Praxen in Billstedt ist es oft schwierig, überhaupt Ärztinnen und Ärzte sowie Medizinische Fachangestellte zu bekommen. Steinberg berichtet von Beschimpfungen und Beleidigungen sowie einem aggressiven Verhalten von Eltern, die ohne Termin kommen. Dabei hat er sogar Verständnis, „denn das ist Verzweiflung, es geht um die Kinder“. Soweit es möglich sei, würden alle behandelt.

Kinderärzte: Mehr Geld für „sprechende“ Medizin gefordert

Nach der Zählweise der Kassenärzte gilt Hamburg noch immer als „überversorgt“ mit Kinderärzten. Dabei werden allerdings Tausende Kinder aus dem Umland in der Stadt versorgt. Weil das Budget für alle bislang begrenzt war, wurden zuletzt nur 60 bis 70 Prozent aller Leistungen, die in den Praxen erbracht wurden, überhaupt bezahlt. Selbst wenn dieser Honorardeckel fällt, glaubt Steinberg, sei die Praxis in Billstedt nicht wirtschaftlich zu betreiben. Es müsse eine Bezahlung geben, die besondere regionale Bedingungen berücksichtige.

Der Verband der Kinder- und Jugendärzte in Hamburg erwartet, dass sich die Lage verbessert, wenn mehr Leistungen tatsächlich bezahlt werden. Die Vorsitzende Claudia Haupt sagte dem Abendblatt, es würden dann weniger Praxen aufgeben. „Wir wünschen uns darüber hinaus eine Besserstellung der ‚sprechenden‘ Medizin und eine stärkere Berücksichtigung der kinderspezifischen Zeitaufwände.“

Zudem müsse zur Nachwuchsgewinnung die Weiterbildung stärker gefördert werden, brauche es Zusammenarbeit mit sozialen Einrichtungen und mehr Gesundheitskompetenz in Kitas und Schulen. „Dazu gehört auch die deutliche Erhöhung der Kita-Plätze für unter Dreijährige.“

Ärzteprotest: Hamburger Praxen zwischen Weihnachten und Neujahr geschlossen

Zwischen Weihnachten und Neujahr haben deutschlandweit Tausende Praxen aus Protest gegen die Politik von Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) geschlossen. Wie viele es in Hamburg sind, ist nirgendwo erfasst. HNO-Arzt Dirk Heinrich (Vorsitzender des Virchowbundes) spricht von „systematischer Unterfinanzierung“. Er erhalte für jeden dritten Patienten in seiner Praxis gar kein Geld. Ärztevertreter befürchten, dass durch „kalte Insolvenzen“ weitere Praxen schließen müssen. Wenn niedergelassene Ärzte in den Ruhestand gehen, finden sie oft keine Nachfolger, weil Mediziner woanders mehr verdienen können.

Um diesem Trend entgegenzuwirken, wird die KV Hamburg am 3. Januar in Rahlstedt eine eigene Kinderarztpraxis eröffnen. Dort sollen angestellte Ärzte arbeiten. Die KV erhofft sich, auch die Menschen zu versorgen, die beispielsweise mit fiebernden Kindern und leichteren Erkrankungen die Notaufnahme des Kinderkrankenhauses Wilhelmstift verstopfen.

Doch den Eltern kann man das kaum verdenken. Termine oder einen festen Platz für ihre Kleinsten bei einem Hamburger Kinderarzt zu bekommen gleicht einer Lotterie. Mit dem MVZ in Billstedt hatte die KV nach Abendblatt-Informationen ebenfalls Gespräche über eine KV-Kinderarztpraxis in den dortigen Räumen geführt. Am Ende konnte man sich nicht einigen.

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Der Sozialverband SoVD bemängelt einen „eindeutigen Facharztüberschuss in gut situierten Stadtteilen“, während Fachärzte für Kinder- und Jugendliche „in ärmeren Gegenden der Stadt rar gesät bis gar nicht vorhanden sind“, sagte der Landesvorsitzende Klaus Wicher. Eine Senatsantwort auf eine Linken-Anfrage hatte zuletzt ergeben, dass die Arztdichte in Winterhude oder Blankenese erheblich höher ist als in Lurup, Billstedt oder auch Heimfeld, wo entfallene Hausarztsitze nicht nachbesetzt werden konnten.

Sozialverbandschef Wicher sagte, er verstehe, dass lange ausgebildete Ärzte angemessen bezahlt werden müssten. „Dort, wo die soziale Struktur dies nicht ermöglichen kann, sollte es Kompensationen für die Niederlassung im Quartier geben.“