Hamburg. Kinderärzte schlagen Alarm: Terminnot, überfüllte Praxen, Unterfinanzierung. „Dieser Winter könnte schlimmer werden als der letzte.“
Ein Hamburger Kinderarzt, um die 70 Jahre alt, hat längst nicht genug. Seine Praxis hat er eigentlich aufgegeben. Jetzt macht er noch mal eine neue auf. An einem anderen Standort. Er tut es für seine kleinen Patientinnen und Patienten, für die Eltern, die wegen Wartezeiten und Terminknappheit schon verzweifeln. Ein anderer, deutlich über 70, arbeitet noch immer in einer Gemeinschaftspraxis mit. Warum? Weil er es kann. Weil er gebraucht wird. Weil es für ihn keinen schöneren Job auf der Welt gibt.
Doch ist das die Zukunft der medizinischen Versorgung von Kindern in der wachsenden Stadt Hamburg, die ohnehin das vom Ärztesterben bedrohte Umland zu großen Teilen mitversorgt? Dass die Rentner weiterarbeiten, bis sie umfallen, nur um die größten Löcher in der Planung der Gesundheitspolitik zu stopfen?
Das kann es nicht sein, sagen die beiden Kinderärztinnen Dr. Claudia Haupt und Dr. Charlotte Schulz im Gespräch mit dem Abendblatt, die im Westen der Stadt und in Kern-Eimsbüttel ihre Praxen haben. Haupt leitet den Verband der Kinder- und Jugendärzte in Hamburg, Schulz ist dessen Sprecherin.
Kinderärzte in Hamburg schlagen Alarm: zu wenig Termine und lange Wartezeiten
Beide wirken erstaunlich jung, geradezu dynamisch – obwohl auf ihren letzten Geburtstagskuchen jeweils mehr als 50 Kerzen standen. Sie wissen seit Jahrzehnten: Außer tausendmal Danke von Eltern kriegen sie nichts geschenkt. Im Gegenteil: Nach ihrer Wahrnehmung haben in diesen Tagen die Politik und vor allem Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) ihnen nur noch Ignoranz, billige Polemik und Fake News zu bieten. Gleichzeitig fürchten sie, dass sie sich nicht wie bisher um kranke Kinder kümmern können.
Haupt sagt: „Von der Gesundheitspolitik und vor allem von Karl Lauterbach kommt null Wertschätzung. Auf der anderen Seite sehen wir, dass es Bestrebungen gibt, die Krankenhäuser zu ambulantisieren. Die bieten dann kinderärztliche Leistungen an, die deutlich teurer sind als unsere. Das kann es nicht sein.“
Schulz sagt: „Es werden Gesundheitskioske geschaffen, in denen keine Ärztinnen oder Ärzte arbeiten, Parallelstrukturen, die kosten, die aber nicht die inhabergeführte Haus- oder Kinderarztpraxis ersetzen können – und wir strampeln uns in diesem System ab.“ Schulz spricht von Stimmungsmache mit „falschen Zahlen“ gegen die niedergelassenen Ärzte. Denn Lauterbach stelle die rhetorische Frage: „Sollen etwa die Krankenversicherten mehr zahlen, damit die Ärzte noch mehr verdienen?“
Karl Lauterbach: Vorwurf der Polemik gegen niedergelassene Ärzte
Dass die Ampelregierung Koalitionsversprechen an die Ärzte nicht eingehalten hat, dass sie finanzielle Zugeständnisse zurückgenommen hat – das erwähnen die Ärzte kaum noch. Dabei fehlen durch das Streichen der Neupatientenregeln den Hamburgern jedes Jahr Dutzende Millionen Euro.
Die Regeln sorgten dafür, dass der erhöhte Aufwand für neue Patienten einer Praxis auch so bezahlt wurde wie erbracht. Babys sind sowieso Neupatienten, bei Orthopäden sind es Unfallopfer, Tausende Geflüchtete sind es ohnehin. Und wegen der Praxisschließungen aus Altersgründen suchen immer mehr Hamburger einen neuen Hausarzt.
Minister Lauterbach twitterte als angebliches Arzteinkommen den vom Statistischen Bundesamt ermittelten Medianwert von 233.000 Euro Jahresreinertrag. Doch das bezieht sich auf Praxen mit größtenteils mehreren Ärzten. Pro Kopf kommt gerade bei Haus- und Kinderärzten erheblich weniger an.
Hamburgs freischaffende Mediziner sind besonders gekniffen. Weil die Stadt auf dem Papier „überversorgt“ ist, müssen sich mehr Ärzte das zur Verfügung stehende Budget teilen. In anderen Bundesländern, auch im Süden Deutschlands, gibt es mehr Honorar.
Was Praxisärzte wirklich verdienen
„Der Spiegel“ stellte angesichts der jüngsten Ärzteproteste die Frage: „Sind 7900 Euro netto zu wenig?“ Das sollte ein Richtwert sein. Man vergleicht, auch wenn es nicht ganz korrekt erscheint, das Gehalt eines Oberarztes im Krankenhaus mit dem eines niedergelassenen. Denn zumeist sollen Oberärzte aus der Klinik dann als Selbstständige in eine Praxis wechseln oder sie übernehmen. So lief es oft. Bislang.
Abgesehen von der wirtschaftlichen Absicherung und – halbwegs – geregelten Arbeitszeiten verdient ein Oberarzt (im siebten Jahr) nach Tarif rund 8700 Euro. Das ist allerdings brutto. Im Gespräch mit dem Abendblatt sagten mehrere Praxisärzte: „Ein Oberarztgehalt hätten wir auch gerne.“
Hamburg: Kinderärzte und MFAs verzweifelt gesucht
Die Erklärung ist einfach: Praxen sind kleine Unternehmen, die die Preise nicht erhöhen können. Sie müssen versuchen, auch in Zeiten hoher Inflation, gestiegener Energiepreise, Gehälter und Mieten wirtschaftlich zu arbeiten. Kinderärztin Haupt sagt: „Wir zahlen uns selbst von Jahr zu Jahr weniger aus.“ Gerade die Pädiater haben personalintensive Praxen und brauchen viele Mitarbeiterinnen. „Wenn wir die nicht bezahlen und halten können, können wir keine Sprechstunden anbieten.“
Schon jetzt ist das schwieriger geworden. An zahllosen Praxentüren kleben Zettel: MFA gesucht. Den Medizinischen Fachangestellten kann man nicht verdenken, wenn sie in andere Jobs wechseln, auch ins Krankenhaus. Dort gibt es mehr Geld, weniger Stress. Eine kleine Honorarverbesserung soll für die Hamburger Kinderärzte zusätzlich zu dem mit den Krankenkassen verhandelten Plus von 3,85 Prozent für alle Ärzte kommen. Ob und wie es sich auswirkt, sieht man erst in einigen Monaten. Zuletzt bekamen sie zum Teil weniger als 60 Prozent dessen ausgezahlt, was sie an Leistungen für Kinder erbracht haben.
Haupt muss rechnen: „Wer investiert in eine Praxis, wenn er weiß, dass er sie nicht rentabel betreiben kann? Man fragt sich: Ist das politisch überhaupt noch erwünscht?“ An Nachwuchs mangelt es erheblich. Bei den Kinderärzten sind sechs Prozent der Vertragsärzte in der KV unter 40 Jahre alt, 22 Prozent über 60, zum Teil deutlich darüber.
Warum jetzt eine Zweiklassenmedizin droht
Die Verbandsvorsitzende sagte, sie protestiere nicht für sich, sondern für funktionierende Praxen. „Wir befürchten jetzt erst recht die Zweiklassenmedizin, vor der immer gewarnt wurde: Wohlhabende werden privat ihre Arzttermine bekommen, der große Rest wird Ärzte deutlich seltener sehen.“
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Auf eine Abendblatt-Anfrage hatte die Sozialbehörde von Senatorin Melanie Schlotzhauer (SPD) zu den Ärzteprotesten erklärt: Diese richteten sich zwar an die Bundesregierung. Doch sei auch „der Senat ebenfalls in großer Sorge um die Stabilität der wohnortnahen, flächendeckenden ambulanten vertragsärztlichen und psychotherapeutischen Versorgung in Hamburg“.
Sozialbehörde sieht Lage mit „großer Sorge“
Die Behörde wirke auf die Kassenärztliche Vereinigung Hamburg hin, „alle Sicherstellungsinstrumente zur Verbesserung der vertragsärztlichen Versorgung zu nutzen“. Im Bundesrat habe man sich für die Neupatientenregel starkgemacht. Die Streichung dieser Regel sei „nicht nachvollziehbar“. Bei Haus- und Kinderärzten sollten die Budgetgrenzen wegfallen, so die Behörde.
Das ist Wunschdenken. Die finanzielle Lage der gesetzlichen Krankenkassen ist schlecht. Lauterbachs – teure – Krankenhausreform steht an. Dass neun von zehn Behandlungen von niedergelassenen Ärzten gemacht werden, wird oft unter den Tisch gekehrt. Ein Jahr nach ihrem Brandbrief an die Politik fürchtet Kinderärztin Schulz: „Die Konsequenz aus noch weniger Terminen wird sein: Eltern gehen in die Notaufnahme mit ihren Kindern, wenn sie Fieber haben. Das sorgt dort weiter für Ausnahmezustände. Dieser Winter könnte noch schlimmer werden als der letzte.“
Da hatte es aufgrund hoher Zahlen von Atemwegserkrankungen, Corona, Grippe und RS-Viren chaotische Zustände in Praxen und Kliniken gegeben. Zudem fehlten wichtige Arzneimittel. Viele Kinderärzte wirken bisweilen angespannt. Wer regelmäßig am Wochenende Notdienst macht und montagmorgens um 8 Uhr fröhlich in die eigene Praxis soll, mag sich nicht vorhalten lassen, er oder sie verdiene ja fürstlich. Charlotte Schulz sagt: „Jetzt ist die Zeit gekommen, in der sich viele die Sinnfrage stellen.“