Hamburg. Neues Elternbündnis will „Bildung ohne Zwang“: Für viele Kinder funktioniere staatliches Angebot nicht. Hohes Ziel bis Februar.

Mit dem durchaus sympathischen Motto „Zukunft lernen – Bildung ohne Zwang“ ist – allerdings bislang weitgehend unbemerkt – eine Volksinitiative an den Start gegangen. Seit Ende August sammeln engagierte Eltern um die Vertrauenspersonen Ulrike Dockhorn und Gerd Kotoll Unterschriften, die bereits 2015 mit der Volksinitiative „Guter Ganztag“ erfolgreich waren und in einem Kompromiss mit Senat und Bürgerschaft eine bessere Ausstattung der Schulen erreichen konnten.

Nach der Kampagne für die Rückkehr zu G9 am Gymnasium ist es die zweite Volksinitiative, die sich mit dem Thema Schule beschäftigt. Worum geht es jetzt? „Wir wollen erreichen, dass sich die pädagogische Blickrichtung ändert. Vom Alter von sechs Jahren an gilt für Kinder und für ihre Eltern zwingend das staatliche Angebot Schule. Doch für viele Kinder funktioniert das nicht mehr“, sagt Ulrike Dockhorn im Gespräch mit dem Abendblatt.

Schule Hamburg: Neue Volksinitiative will Anwesenheitspflicht für Schüler kippen

Es gehe der Initiative darum, Bildung von den Schülerinnen und Schülern her zu denken und ihre Individualität in größerem Maße ernst zu nehmen, als das bislang der Fall sei.

Dockhorn erinnert daran, dass rund ein Viertel der Kinder am Ende der vierten Klasse nicht die Mindeststandards im Lesen, Schreiben und Rechnen erreicht hat. „Der Unterricht läuft normiert im Gleichschritt ab und nimmt häufig zu wenig Rücksicht auf die Heterogenität der Schülerinnen und Schüler und deren unterschiedliche Lebensverhältnisse“, sagt die Mutter zweier Kinder.

Hamburg hat strenge Regeln, um die Schulpflicht durchzusetzen

„Es geht uns nicht um Lehrer-Bashing. Es gibt viele beeindruckende Lehrer, aber es gibt auch ganz andere, die keine Lust auf Probleme haben“, sagt Dockhorn. Schüler und Schülerinnen, die im vorgegebenen System nicht funktionierten, bekämen schnell schlechtere Noten und müssten eventuell die Schule verlassen.

Der sogenannte „Schulzwang“ ist der Initiative ein besonderer Dorn im Auge. Seit 2005 sind im Schulgesetz strenge Regeln festgelegt, nach denen die Schulpflicht durchgesetzt werden soll und bei fortgesetztem Absentismus Sanktionen bis hin zum Jugendarrest verhängt werden.

„Es gibt zum Beispiel autistische Schüler, die es nicht aushalten, mit 25 Kindern in einem Raum zu sitzen“, sagt Dockhorn. Eine konkrete Forderung der Volksinitiative ist die Abschaffung der „Schulanwesenheitspflicht“. Stattdessen werden Senat und Bürgerschaft aufgefordert, „Schülerinnen und Schülern auf Antrag alternative Bildungsangebote auch in Form von digitalem Fernunterricht zu genehmigen“.

Die Volksinitiative fordert die Politik auf, „alternative Bildungsangebote“ zu genehmigen

„Wir wollen ausdrücklich nicht die Schulpflicht abschaffen“, versucht Dockhorn mögliche Missverständnisse auszuräumen. „Für die allermeisten Kinder dürfte das staatliche Schulsystem okay sein, aber eben nicht für alle.“ Es gebe junge Menschen, die zu Hause in der vertrauten Umgebung und im eigenen Tempo besser lernen könnten als in der Schule. Für diese Kinder könnten „alternative Bildungsangebote“ wie die digitale „Clonlara School“ der richtige Weg sein. Die weltweit operierende Online-Schule hat auch ein deutsches Programm für die Klassenstufen sechs bis zwölf.

Aus Sicht von Dockhorn und ihren Mitstreitern wurde der „Schulzwang“ eingeführt, „um mit Problemschülern fertig zu werden“. Auf der Homepage der Initiative sind durchaus krasse Fälle in Form von anonymisierten Erfahrungsberichten nachzulesen. So erzählt eine Mutter, ihre achtjährige Tochter sei eines Morgens zur Durchsetzung der Schulpflicht von der Polizei abgeholt worden. „Sie hatte Angst vor ihrer Lehrerin und fühlte sich in der Klasse nicht akzeptiert. Deshalb wollte sie lieber von zu Hause lernen. Ich hätte ihr das, zumindest phasenweise, ermöglicht. Das Jugendamt war dagegen und ließ sie in ein Heim in Schleswig-Holstein bringen“, schreibt die Mutter.

Der „Schulzwang“ habe Probleme wie die gesellschaftliche Spaltung nicht verhindert

„Versagensdruck, Mobbing und Schulangst sind ständige Begleiter im schulischen Alltag Hamburger Kinder und Jugendlicher. Zwangsmaßnahmen wie Psychiatrisierung, Herausnahme aus der Familie, Bußgelder und Beugehaft fördern erwiesenermaßen Bildungsziele nicht“, heißt es in der Vorlage der Volksinitiative. Der „Schulzwang“ sei bislang zudem nicht geeignet gewesen, „bestehende Probleme wie die gesellschaftliche Spaltung oder häusliche Gewalt gegen Kinder wirksam zu verhindern“.

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Aus Sicht der Initiative wird die aktuelle Organisation des Bildungssystems dem Anspruch an moderne Bildung immer weniger gerecht. „Trotz Anwesenheitszwang bringt das System Schülerinnen und Schüler hervor, die nicht ausreichend lesen und schreiben lernen, es produziert soziale Ungerechtigkeiten und zahlreiche Schulabbrecher, die jedes Jahr ohne Abschluss die Schulen verlassen“, schreibt die Initiative dann doch sehr grundsätzlich und pauschal.

Privatschulen sollen zu 100 Prozent staatlich finanziert werden

Ulrike Dockhorn weist noch darauf hin, dass für manche Kinder und Jugendlichen Privatschulen eine geeignete spezialisierte und individualisierte Förderung anböten. In diesem Zusammenhang erhebt die Initiative die einzige direkte finanzielle Forderung. Senat und Bürgerschaft werden aufgefordert, „zur nötigen Förderung der Vielfalt in der Bildungslandschaft und der freien Bildungswahl, Schülerinnen und Schüler an staatlich anerkannten Privatschulen finanziell und im Hinblick auf die Erlangung von Abschlüssen gleichzustellen“.

Dahinter steht die Forderung, dass der Staat die Privatschulen zu 100 Prozent finanziert. In Hamburg sind es etwa 80 Prozent, der Rest wird über das Schulgeld der Eltern abgedeckt.

Die Volksinitiative muss – wie alle anderen auch – im Laufe von sechs Monaten 10.000 Unterstützer-Unterschriften einsammeln. Bis Ende Februar hat „Zukunft lernen – Bildung ohne Zwang“ noch Zeit. Darüber, wie viele wahlberechtigte Hamburger das Anliegen bereits mit ihrer Unterschrift unterstützen, hüllt sich Ulrike Dockhorn in Schweigen. „Am Ende wird abgerechnet. Es ist noch Luft nach oben“, sagt die Vertrauensfrau nur.