Hamburg. 85 Jahre nach Reichspogromnacht: Lior Katz-Natanzon berichtet von der Ermordung ihrer Mutter durch die Hamas.

In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 plünderten und verwüsteten Schlägertrupps der Nationalsozialisten die damalige Bornplatzsynagoge im Grindelviertel. Ein Jahr später erfolgte der Abriss einer der größten frei stehenden Synagogen in Nordeuropa auf Kosten der jüdischen Gemeinde. Es gibt keinen richtigeren Ort, um an die Gräueltaten der Nazis zu erinnern, die in der Shoa gipfelten: Auf dem heutigen Joseph-Carlebach-Platz wird die neue Bornplatzsynagoge entstehen – auch als Bekenntnis zu heutigem jüdischen Leben in der Stadt. Und in diesem Jahr ist es nach dem Massaker der Hamas an mehr als 1400 Jüdinnen und Juden vor einem Monat in Israel besonders nötig, ein kraftvolles Zeichen gegen den erstarkten Antisemitismus zu setzen – 85 Jahre nach der Reichspogromnacht.

Mehrere Hundert Menschen, einige mit einer Israelfahne um ihren Körper, hatten sich unter dem Motto „Nie wieder ist jetzt“ vor einer Bühne versammelt, vor der ein Davidstern aus Teelichtern auf dem Boden leuchtete. An der Mauer des Nazi-Bunkers, der nun der neuen Bornplatzsynagoge weichen wird, waren die Flugblätter mit den Namen und Fotos der von der Hamas entführten Frauen, Kinder und Männer geklebt. Und plötzlich wurde der Horror des Hamas-Massakers sehr gegenwärtig: Lior Katz-Natanzon, die mit ihrer Familie in einem Kibbuz nahe des Gazastreifens lebt, trat ans Mikrofon.

Gedenken an Pogroomnacht: Lior Katz-Natanzon hat ihre Mutter bei dem Massaker der Hamas verloren

„Am 7. Oktober wurde aus unserem Leben ein Albtraum. Terroristen überfielen und plünderten unser Kibbuz, ermordeten wahllos Menschen, egal welchen Alters oder Geschlechts“, berichtete Katz-Natanzon mit brüchiger Stimme. „Meine Mutter wurde ermordet. Der Verlust ist unersetzlich, sie war der Ankerpunkt meines Lebens“, sagte die junge Frau, deren Bruder, Schwägerin, Schwester sowie deren zwei Kinder im Alter von zwei und vier Jahren von den Terroristen nach Gaza entführt wurden. „Wir haben bis heute kein Lebenszeichen von ihnen. Es ist unerträglich, nicht zu wissen, ob sie verletzt sind, ob sie schlafen können und etwas zu essen bekommen“, sagte Katz-Natanzon, die nur durch einen Zufall nicht selbst verschleppt wurde.

Und dann erzählte die Frau, die von ihrer Nichte begleitet und gestützt wurde, dass ihre Großmutter im Alter von 100 Jahren vor einem Jahr gestorben sei. „Sie hat den Holocaust überlebt, und ihr Weg hat sie nach Israel geführt. Sie dachte, dass das ein sicherer Platz für sie ist. Ein Glück, dass sie den 7. Oktober nicht erleben musste“, sagte Katz-Natanzon. „Helfen Sie mir, meine Lieben zurückzubringen. Helfen Sie uns, mein Land wieder zu einem sicheren Platz zu machen für die Zukunft unserer Kinder!“

Bürgermeister Peter Tschentscher erinnerte daran, dass Hamburg „fest in der Hand der Nazis“ war

Einen Moment herrschte Stille, dann brandete Unterstützungsbeifall auf. Auf bewegende und beklemmende Weise hatte Lior Katz-Natanzon, die zuvor schon von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in Berlin empfangen worden war, die Brücke zwischen der Pogromnacht 1938 und der traumatischen Situation für Jüdinnen und Juden heute geschlagen.

Bürgermeister Peter Tschentscher erinnerte daran, dass sich auch in Hamburg nach 1933 viele Bürgerinnen und Bürger „aktiv oder durch Wegsehen an der Ausgrenzung oder Verfolgung und späteren Deportation der jüdischen Mitbürger“ beteiligt hatten. „Auch unsere Stadt war fest in der Hand der Nazis. Aus diesem dunkelsten Kapitel unserer Geschichte erwächst für uns heute eine besondere Verantwortung und Verpflichtung. Der Jahrestag der Progrome vor 85 Jahren steht unter dem Eindruck des Terrors der Hamas“, sagt Tschentscher. „Die Botschaft heute lautet: Wir stehen fest an der Seite Israels. Dazu gehört für uns, dass wir Antisemitismus in unserer Stadt nicht dulden. Antisemitische Parolen und das Bejubeln terroristischer Angriffe sind in Deutschland Straftaten.“

Gedenken an Pogromnacht: Joseph-Carlebach-Platz soll wieder ein Zentrum jüdischen Glaubens werden

Der Joseph-Carlebach-Platz verbinde wie kein zweiter Ort die Geschichte und Zukunft jüdischen Lebens in Hamburg. „Mit dem Wiederaufbau der Bornplatzsynagoge soll dieser Ort wieder zu einem Zentrum jüdischen Glaubens und Lebens in Hamburg werden“, sagte Tschentscher. „Deutschlands Demokratie muss wehrhaft bleiben. Dazu gehört auch, für das Recht anderer Demokratien einzustehen, sich gegen barbarische Angriffe zur Wehr zu setzen“, sagte Philipp Stricharz, der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde. „Zur deutschen Demokratie muss aber auch gehören, dass man sich ohne Sorge und jederzeit als jüdischer Deutscher zu erkennen geben kann. Und das ist nicht der Fall. War es nicht, und ist es jetzt noch weniger“, sagte Stricharz.

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Entschlossen und engagiert war der Auftritt von Luisa Neubauer von Fridays for Future (FFF). „Für uns ist klar: Nie wieder ist jetzt. Da machen wir keine Kompromisse. Unsere Haltung hier ist eindeutig“, sagte Neubauer und grenzte sich damit zum Beispiel scharf ab etwa von der FFF-Gründerin Greta Thunberg. „Ich frage mich, wie man denen in die Augen gucken möchte, die nach Jahrzehnten von großen Reden in Deutschland von ,Nie wieder‘ jetzt auf offener Straße antisemitisch angegriffen werden“, sagte Neubauer und zitierte den Philosophen Ernst Bloch: „Nur jenes Erinnern ist fruchtbar, das zugleich erinnert, was noch zu tun ist.“

Auch Bischöfin Kirsten Fehrs, Hamburgs Ehrenbürgerin Kirsten Boie und die DGB-Landesvorsitzende Tanja Chawla sprachen ihre Solidarität mit den Jüdinnen und Juden aus. „Es waren seit der Zerstörung der Bornplatzsynagoge nie so viele Menschen auf diesem Platz. Das ist großartig. Steht an unserer Seite!“, rief Daniel Sheffer, der Vorsitzende der Stiftung Bornplatzsynagoge. Nach Angaben der Polizei waren rund 600, nach Angaben der Veranstalter mehr als 1000 Menschen gekommen.