Hamburg. Der Monteverdi-Chor Hamburg und Concerto Köln führen das Oratorium „Jephtha“ auf. Dabei kommt es zu einem Missverständnis.

Nach dem ersten Akt von Händels „Jephtha“ stimmt das Orchester kurz nach, das Licht im Auditorium bleibt abgedunkelt, aber trotzdem verlassen Trauben von Menschen den Großen Saal der Elbphilharmonie. Sie nehmen offenbar an, dass Pause sei, obwohl die laut Programmheft erst in zwei Seiten dran ist. Als dann die Musik wieder einsetzt, nehmen die meisten rasch wieder ihre Plätze ein, einige Sitze bleiben freilich leer.

Die unbeabsichtigte Abstimmung mit den Füßen spiegelt ein Problem dieses Abends: Er zieht sich. Gut und gern drei Stunden dauert Händels spätes Oratorium. Und so untadelig die Aufführung des Monteverdi-Chors Hamburg ist, drängt sich doch die Frage auf: Brauchen wir das heute noch in dieser Ausführlichkeit?

Elbphilharmonie: Monteverdi-Chor Hamburg überzeugt mit Händels Oratorium „Jephtha“

„Jephtha“, uraufgeführt 1752, gehört zu einem Genre, das sich der Komponist in seiner letzten schöpferischen Phase erschlossen hatte. Schon damals war Aufmerksamkeit die härteste Währung im Londoner Unterhaltungsbusiness. Ständig musste Neues her, wandelten sich die Genres, und Händel hatte die Flexibilität und den Geschäftssinn, den es brauchte, um mit der Zeit zu gehen.  

Aber ach, die Sache mit der Aufmerksamkeitsspanne … Aus der Sicht heutiger, an so unterschiedliche Kunstformen wie vielteilige Serien und kurze Videoclips, romantische Sinfonien und Graphic Novels gewöhnter Adressatinnen und Adressaten bleibt die Dramaturgie des Werks flach. Ja, Händel stellt auch hier unter Beweis, wie genau er die Seelenlage seiner Figuren in Musik fassen kann. Affekte nennt man das in der Barockmusik, und das Ensemble Concerto Köln, seit Jahrzehnten zuverlässig einer der Marktführer der Branche, bildet sie unter der Leitung von Antonius Adamske wunderbar ab, in überraschenden Klangfarben oder auch einem Umgang mit dem Zeitmaß, das einen beim Hören erschüttert.

Ensemble Concerto Köln führt in der Elbphilharmonie vor, wie packend Händels Seelendramen sind

Einer dieser Momente gehört der Mezzosopranistin Henriette Gödde mit der Arie „Scenes of horror“. Nachdem sie und das Orchester den lyrischen Mittelteil in einem entrückt-weichen Klang haben verebben lassen, stürzt sie sich für die Rückkehr zum Anfang der Arie ganz allein vom Ton „f“ in die Tiefe, und die Streicher antworten ihr mit peitschenden, atemlosen Schlägen. Da ist alles dabei, was es für ein Seelendrama braucht: innere Beteiligung, dynamische und klangliche Kontraste, metrische Spannung.

Louise Kemeny Niedrige Auflösung
Trotz Indisposition überzeugend: Sopranistin Louise Kemény. © Gerard Collett | Gerard Collett

Wer die Geduld hat, wird einige solcher Kleinodien finden im Verlauf der Aufführung. Das Problem ist, es ist ziemlich viel des Gleichen. Die zugrunde liegende biblische Geschichte ist kurz: Das Volk Israel ist von Gott abgefallen. Nun wird es von einem Tyrannen beherrscht. Rettung soll ausgerechnet Jephtha bringen, den die Israeliten vorher verstoßen hatten. Er sagt auch zu, schwört aber vor der Schlacht, dass er im Falle des Sieges das Erste opfern werde, was ihm bei seiner Rückkehr begegnet. Jephtha siegt tatsächlich – und trifft ausgerechnet auf seine Tochter Iphis.

Elbphilharmonie: Händels Oratorium „Jephtha“ hat ein kleines Problem, es gibt einfach zu viel Musik

Das ist der Stoff, aus dem Tragödien sind. Nur halt nicht besonders viel davon. Weshalb Händels Librettist Morell den Fokus der Geschichte weitete und Figuren hinzuerfand. Und die mussten alle auch wieder Konflikte durchleben. Die Händel wiederum vertonte, damit ein ausgewachsenes Oratorium daraus wurde.

Einen Mangel an Musik kann man „Jephtha“ also nicht vorwerfen. So plätschert die Sache vor sich hin, bis jeder Freud und Leid besungen hat. Was sie allerdings nicht alle gleich überzeugend tun. Die solistischen Männerstimmen tun sich erstaunlich schwer damit, im Raum über das ausgesprochen sensibel begleitende Orchester hinweg zu tragen, ihre Koloraturen wirken eng und angestrengt. Die Sopranistin Louise Kemény als Iphis dagegen singt ihren exponierten, virtuosen Part souverän und wohlklingend.

Mehr Gesang in Hamburg

Dass sie mit Resten einer Indisposition zu kämpfen hat (hinter dem Begriff verbirgt sich meist eine Erkältung), zeigt sich allenfalls darin, dass die Stimme manchmal plötzlich flach klingt. Hervorragend der Knabensopran Nicolas Welcker, der als Engel das glückliche Ende bringt: Iphis muss nicht sterben.

Der Monteverdi-Chor Hamburg als Gastgeber macht seine Sache prima. Adamske hat auch hier ganze Arbeit geleistet. Strukturierte Fugen, gut hörbare Läufe, saubere Intonation auch in den höheren Lagen. Schade bloß, dass der Chor vergleichsweise wenig zu tun hat. Wie wär’s fürs nächste Mal mit Händels „Dixit Dominus“? Das schrieb der genial Begabte mit zarten 21 Jahren. Auf Lateinisch. Knackig, virtuos. Und kurz.

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