Hamburg. Die 33. Bagaluten-Wiehnacht ist eine riesige Party. Es gibt Deutschrock mit plattdeutschem Einschlag und eine anderthalbstündige Bierdusche.
Geschmückte Alstertanne, lecker Glühwein auf dem Weihnachtsmarkt oder Plätzchen backen mit den Kindern: Die Vorweihnachtszeit ist eine Zeit der Rituale. Für die Hamburger Metal- und Rock-Community heißt das, sich in der Sporthalle Hamburg einzufinden und ordentlich zu feiern. Am Freitag luden Torfrock wie jedes Jahr kurz vor Heiligabend zur „Beinharten Bagaluten-Wiehnacht“ ein.
Schon wieder? Ja, schon zum 33. Mal. Das Trink- und Festgelage kann in der Szene fast schon einem Feiertag gleichgesetzt werden.
Was das heißt? „Beinhart geht das ab hier.“ Welchem Norddeutschen schlägt schließlich nicht das Herz höher, wenn die Stimme von Klaus Büchner das Ohr umsäuselt? Heute zwar in der Sporthalle statt „An der Nordseeküste“, aber was soll’s. Wenn der Werner-Synchronsprecher zum Prosten aufruft, dann prostet man zurück, das gebietet die gute Erziehung.
Torfrock-Musiker laden beim Konzert in Hamburg zur Bagaluten-Wiehnacht – Fans kommen als Wikinger
Stichwort gute Erziehung: Schon vor dem Auftritt sind die (zumindest für Torfrock-Fans) heiligen Hallen der Sporthalle prall gefüllt, es blinkt und glitzert von den geschmückten Weihnachtsmützen und gehörnten Wikingerhelmen der Besucherinnen und Besucher. Im Foyer ertönen mächtige Schlachtrufe, die weit durch das heutige Langhaus schmettern. „Odiiin“, schallt es über den Flur. „Odiiiin“, rufen unzählige Hamburger Wikinger zurück und setzen die Bierbecher an. Männlich. Möge der altnordische Göttervater in der Weihnachtszeit seine Weisheit mit ihnen teilen.
Aber so ein echter Wikinger feiert doch eigentlich gar nicht Weihnachten? Das heidnische Julfest soll ja auf Feierlichkeiten zur Wintersonnenwende zurückgehen. Egal, sicher ist heute nur eines: Auch die Nordmänner haben gern mal einen über den Durst getrunken. Den Pfandsammlerinnen und Pfandsammlern vor der Location haben die Teilzeit-Wikinger jedenfalls einiges an Beutegut mitgebracht: Der Weg von der U-Bahn bis zur Sporthalle ist gesäumt mit geleerten Bierdosen und Trinkflaschen.
Torfrock-Konzert in Hamburg: Unmengen Bierbecher fliegen durch den Saal
Als die Bandmitglieder von Torfrock die Bühne betreten, rastet das Publikum erst mal richtig aus. Die Band muss seit vergangenem Jahr ohne Gründungsmitglied Raymond Voß auskommen, der in den Ruhestand ging. Gefeiert wird trotzdem: „Oh, wir feiern wieder feste, ganz feste feiern wir“, singt Klaus Büchner mit seiner Stimme, die man unter Tausenden sofort wiedererkennen würde. Dann heißt es erst mal: „Freie Bahn mit Marzipan“ – und zwar mit plattdeutschem Einschlag.
Unmengen an Bierbechern fliegen schon jetzt durch den Saal. Der Wikinger-Raubüberfall auf die Sporthalle hat begonnen. Wie (un-)präzise Pfeile surren die gefüllten Plastikkrüge über die Köpfe der Menge hinweg, der wertvolle Inhalt (immerhin 6,50 pro Bier, ohne Pfand) ergießt sich in jede Ecke und auf jeden Kopf in der Sporthalle.
Am Mischpult kennt man das Phänomen schon und hat einen provisorischen Pavillon über das teure Equipment gespannt – besser is’ das. Ähnlich handhabt es Drummer Stefan Lehmann, der eine Palisade aus Plastik um sein Schlagzeug hochgezogen hat. Ob das die tobenden Wikinger aufhält? Muss man bezweifeln.
Klaus Büchner mit 76 Jahren auf der Bühne: „Vielen, vielen Danke!“
„Rollo der Wikinger“ und „Presslufthammer B-B-Bernhard“ lassen nicht lang auf sich warten, der Balkon wird locker 20-mal abgerissen („Raddada zong, Raddada zong, wech is’ der Balkon“). Viel machen müssen die vier Torfrocker dabei eigentlich nicht, das Publikum ist sehr textsicher und grölt aus vollem Halse mit. Und mal nebenbei: Auch mit 76 Jahren zieht der gebürtige Hamburger das anderthalbstündige Programm sehr solide durch. Respekt!
Stimmlich deckt Büchner alles ab, was man von ihm kennt – hoch, tief, schräg, gerade – klingt alles wunderbar und frech. Büchner nach jedem Song: „Vielen, vielen Danke!“ Publikum: „Vielen, vielen Bitte!“
Theorie: Genetische Überbleibsel der Wikinger-Raubüberfälle auf Hamburg (beispielsweise 845 n. Chr.) haben sich bis heute in der Hansestadt erhalten – anders lässt sich diese hemmungslose Sause eigentlich gar nicht erklären. Je weiter der Abend voranschreitet, desto rutschiger der Boden. Und desto geruchsintensiver die Luft. Gitarrist Volker Schmidt lobt vor allem den Einsatz der ersten Reihen: „Die Rudereinlage vorne in der Pfütze“, das müsse es nächstes Jahr wieder geben. Was eine „Wildsau“.
Es gibt Gitarrensoli, und es wird gedichtet: Doch das Publikum war dichter
Die Bagaluten-Wiehnacht wäre nicht vollständig ohne das eine oder andere Limerick – es muss ja auch schließlich ein wenig (Hoch-)Kultur stattfinden. Englisch kann „Die Bagaluten Bande“ natürlich auch: „Let‘s wörk togesser“ – das denken sich auch Schmidt und Bassist Sven Berger, die abwechselnd ihre funky Gitarren- und Basssoli abliefern.
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Wobei Kultur bei Torfrock eigentlich nie zu kurz kommt – die „Werner“-Filme sind ja sowieso norddeutsches Kulturgut für Rocker, Biker und Autoschrauber: „Wir gehen nicht schick in die Restaurants und knabbern vornehm am Hummerschwanz. Wir duften nicht nach Eau de Toilette, bei uns schnuppert man gutes Kettenfett“, singt Büchner „Beinhart“ – stimmungstechnisch der Höhepunkt des Abends.
Am Ende sind die Klamotten nass, da hilft auch kein „Kettenhemd“. Für die Schuhe gilt die alte Festivalregel: Sportschuhe reichen nicht, Gummistiefel müssen es sein. So ausgiebig (oder: „Volle Granate Renate“) wie Torfrock und die Hamburger haben wohl nicht mal die alten Wikinger nach ihren Raubzügen gefeiert. Hätten sie aber sicherlich gern.
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