Hamburg. Kunsthalle und Staatsbibliothek der Universität Hamburg zeigen in „Akte, Antike, Anatomie“ kostbare Kupferstiche und Handzeichnungen.
Gibt man in einer Suchmaschine den Begriff Papageientulpe ein, spuckt diese zahlreiche mehr oder weniger passende Bilder zur Blumenart mit den ausgefransten Blättern aus. Ebenso unkompliziert lassen sich unbekannte Tiefseewesen oder der Muskelaufbau des oberen Rückens recherchieren. Nur ein paar Klicks, und schon hat man sich ein weiteres Bild von seiner Umwelt gemacht.
Wie haben das die Menschen angestellt, lange bevor es Fotografie und Computerprogramme gab, etwa in der frühen Neuzeit? Eigentlich genauso, nur etwas umständlicher und zeitaufwendiger: Die Menschen schlugen in Büchern nach, wonach sie suchten oder fanden dort Inspirationen. Und zwar in Form von Zeichnungen.
Kunsthalle Hamburg und Staatsbibliothek mit Doppelausstellung „Akte, Antike, Anatomie“
Die Ausstellung „Akte, Antike, Anatomie. Zeichnend die Welt erschließen“, eine Kooperation der Universität Hamburg und der Hamburger Kunsthalle, nimmt die wohl faszinierendste Kulturtechnik der menschlichen Wirklichkeitserfassung in den Blick.
Im Harzen-Kabinett der Kunsthalle präsentiert Andreas Stolzenburg, Leiter des Kuperstichkabinetts, etwa 100 Handzeichnungen des 15. bis 19. Jahrhunderts; sie zeigen das überwiegend an Akademien erlernte Zeichnen als Instrument von Wissensvermittlung und Erkenntnisgewinn zum Beispiel in den Bereichen Anatomie oder Archäologie. So kam ausgebildeten Künstlern neben der Dokumentation auch die Aufgabe der visuellen Bildungsvermittlung zu.
Großartige Doppelausstellung: Wie wir uns zeichnend die Welt erschließen
Im Ausstellungsraum der Universitäts- und Staatsbibliothek liegt der Schwerpunkt auf dem dilettantischen Zeichnen: „Wie haben sich Menschen, die keinen Zugang zu den Akademien hatten, Techniken und Stile angeeignet?“, fragte sich Kuratorin Iris Wenderholm, Professorin am Kunstgeschichtlichen Seminar, als sie auf ein besonderes Buch stieß. Es stammt aus der wertvollen Sammlung an Handzeichnungen und Kupferstichen seit dem 18. Jahrhundert; diese kamen im Laufe der Zeit durch private Nachlässe oder Schenkungen an die Universität und wurden bislang kaum ausgestellt.
Über den Autor, Joachim Etzekiel Levezow, konnte die Kuratorin nur wenig herausfinden. Außer, dass seine Familie zwischen Stettin und Braunschweig ansässig und er zwischen 1685 und 1687 kreativ tätig war (dies konnte anhand von wenigen Signaturen ermittelt werden). Doch sie beeindruckte die Akribie und Virtuosität, mit der er die Natur in ihrer Vielfalt einfing: Tulpen, Rosen, Lilien und vor allem heimische Vögel. Zunächst mit Strichmännchen, später mit kleinen Gliederpuppen, studierte Levezow auch die menschlichen Proportionen. „Kunst ohne Autor“, nennt es Iris Wenderholm. Sie vermutet, dass Levezow oft in Bibliotheken war, um dort aus Büchern zu lernen.
Wichtiges Ziel: Über Kunst schreiben und Faszination daran vermitteln
Die Ausstellung ist aus einem dreisemestrigen Lehrprojekt des Kunstgeschichtlichen Seminars hervorgegangen. Studierende vom ersten Semester bis zum Masterstudiengang haben daran mitgewirkt: Quellen recherchiert, Wandtexte geschrieben, Bilder gehängt, sogar den schwarzen Vorhang zur Verdunkelung genäht.
„Besonders wichtig finde ich, dass die Studierenden lernen, über Kunst zu schreiben und die Faszination daran zu vermitteln“, sagt Iris Wenderholm. Denn die meisten von ihnen würden nicht an Universitäten lehren, sondern journalistisch, an Museen oder Auktionshäusern arbeiten. „Viele von ihnen brauchten die Benotung für dieses Projekt gar nicht und haben trotzdem so tatkräftig mitgearbeitet, das hat mich besonders gefreut“, so die Initiatorin.
Neben dem „Levezow-Album“ sind noch weitere Bücher von Amateuren zu sehen, die ihre teils kolorierten Zeichnungen einfach auf die Seiten klebten. Dabei schöpften die Künstler aus dem reichen Fundus antiker Statuen oder orientierten sich an Koryphäen wie Vitruv oder Albrecht Dürer, die sich mit der Konstruktion idealer Körperformen auseinandersetzen, aber auch die Unterschiedlichkeit der Körper erkannten. Natürlich spielten auch Aktdarstellungen eine große Rolle.
Mehr Ausstellungen
- Was macht Lars Eidinger denn schon wieder in der Kunsthalle?
- Weihnachten – schöner schenken mit den Hamburger Museen
- Durch die Blume: Das ist die Hamburger Ausstellung des Jahres!
Die Ausstellung versammelt Exponate, die relevante Wissensbereiche für Künstler zeigen. So etwa das Buch „Anatomia Humani Corporis“, eine Zusammenarbeit des Anatomen Govard Bidloo und dem Künstler Gerard de Lairesse. Der Hamburger Kinderchirurg Christian Beyer, der am Seminar studiert und an der Ausstellung mitgewirkt hat, fand darin zufällig einen Zettel, auf dem das „Herz eines blausüchtigen Kindes“ aus dem 19. Jahrhundert dargestellt war. Erst in den 1960er-Jahren konnte man Kinder mit solch einem Herzfehler durch eine Operation am Leben halten. Für Beyer ein persönlich berührender Moment und in einer größeren Dimension der Beweis, wie wichtig die künstlerische Darstellung für einen erfolgreichen Wissenstransfer war und ist.
Das rätselhafte „Levezow-Album“ liegt aufgeschlagen in einer Vitrine. Besucherinnen und Besucher können in der digitalisierten Version blättern, die um einige Zusatzinformationen erweitert wurde. Nach Beendigung der Universitätsausstellung wird das kostbare Buch in die Kunsthallenschau wandern. Auch dort wird es mittels eines QR-Codes digital erlebbar sein. Für den erleichterten Zugang zu den Themen hat die Studentin Svenja Hasche das Mitmachheft „Lerne mit Levezow“ entwickelt, es liegt kostenlos in der Stabi-Ausstellung aus.
„Akte, Antike, Anatomie. Zeichnend die Welt erschließen“ bis 20.12., Staats- und Universitätsbibliothek (Busse 4, 5), Von-Melle-Park 3, Mo–Fr 9.00–24.00, Sa/So 10.00–24.00, Eintritt frei, www.sub.uni-hamburg.de. Bis 18.2.2025, Hamburger Kunsthalle (U/S Hauptbahnhof), Glockengießerwall 5, Di–So 10.00–18.00, Do 10.00–21.00, Eintritt 16,-/8,- (erm.), www.hamburger-kunsthalle.de
Sternstunde oder Reinfall? Jeden Monat rezensieren wir für unsere Abonnentinnen und Abonnenten mehr als 100 Konzerte, Theatervorstellungen, Choreografien, Bücher, Ausstellungen, Serien oder Filme. Hier finden Sie alle Kritiken – was Sie in Hamburg gesehen, gehört oder gelesen haben müssen!