Hamburg. Der Roman des Schweizer Autors spielt kühn mit den Möglichkeiten künstlicher Intelligenz. Eine toxische Protagonistin ist aber sehr real.
Weite Teile dieses Romans sind der Profession ihrer Hauptfigur vorbehalten. Die schreibt und schreibt so vor sich hin zunächst. Oder besser, sie lässt schreiben. Gefüttert von ihren Denkimpulsen, produziert der Computer Text. Faszinierend, neu, gruselig, bereichernd, räuberisch.
Schon klar, in „Täuschend echt“, dem erstaunlichen neuen Roman des unerschrockenen Schweizers Charles Lewinsky, geht es vor allem um die allgegenwärtige Heimsuchung künstliche Intelligenz. Mit der hantiert der namenlos bleibende Ich-Erzähler zunächst ein bisschen planlos, aber beeindruckt herum, nachdem ihn seine Freundin verlassen hat. Die heißt da noch Sonja, später findet er heraus, dass sie eigentlich eine Sibylle ist. Das mit der KI wird noch intensiver gepflegt mit der Zeit, der mittelalte, den Möglichkeiten der Moderne insgesamt doch recht aufgeschlossene Mann ist da überhaupt nicht zimperlich.
Aber dazu kommen wir noch. Zunächst zu Sonja. Eine ganz und gar grässliche Frau! Man hat fast den Eindruck, Lewinsky (78, „Der Halbbart“, „Rauch und Schall“) wolle zu den oft so überzeugend unsympathischen, toxischen oder lächerlichen männlichen Figuren der Gegenwartsliteratur, wie sie einem zum Beispiel gerade erst wieder in Terézia Moras „Muna oder Die Hälfte des Lebens“ oder Ruth-Maria Thomas‘ „Die schönste Version“ begegneten, nun mal unbedingt ein weibliches Gegenstück gesellen. Immer nur auf die Männer? Muss ja auch nicht sein.
Neues Buch von Charles Lewinsky: „Der Teufel ist natürlich eine Frau“
Jedenfalls lässt er seinen Helden nach Kräften über die Ex herfallen. Da spricht eine gekränkte Seele, Sonja machte sich über ihn, den gut abgehangenen Jazz-Fan, stets lustig. Dann ist sie mit einem Mal fort, so plötzlich, wie sie, die Jüngere, vorher da gewesen war. Der Erzähler ist frustriert: „Ich habe nie verstanden, warum der Teufel immer männlich dargestellt wird. Er ist natürlich eine Frau. Ein Meter siebenundsechzig groß. Blonde Haare, wenn sie frisch gebleicht sind. Kleidergröße vierzig. Sie sagt achtunddreißig, aber das macht sie sich vor. Keine Hörner, die setzt sie anderen auf.“
Was ‘ne Wurst, ist man geneigt zu denken. Später schält sich aus dem neugeborenen Frauenhasser, der sicherlich auf etwas schäbige Weise verlassen wurde, aber ein Mann, der keineswegs grundlos schlecht über Sonja spricht. Das ist, als er herausfindet, dass sie eigentlich Sibylle heißt und auf Bali seine Kreditkarte hat glühen lassen, als gäbe es kein Morgen.
Neues Buch „Täuschend echt“: Müslitexte kann auch die KI schreiben
Da ist der Erzähler aber schon in anderen Lebensumständen unterwegs, Sonja/Sibylle ist lediglich ein elendiges Kapitel aus der Vergangenheit. Wie von ihr vorhergesagt, hatte er zwar auch seinen Job verloren – als Werbetexter für Müsli ist man tatsächlich ersetzbar. „Crispy“ Flocken kann auch eine KI besingen. Ebenjene künstliche Intelligenz, wie sie sich zum Beispiel hinter mittlerweile geläufigen Begriffen wie ChatGPT verbirgt.
Der Erzähler nennt seine schreiberische KI-Unterstützung irgendwann Kirsten, was komisch und konsequent zugleich ist, denn der Autor Lewinsky thematisiert in diesem Roman das Eindringen täuschend echter, künstlicher Menschlichkeit in das private und das berufliche Leben. Der mit einem Male, nach all den Schicksalsschlägen, superaktive, nur halt nicht mehr fest angestellte Werbemann schreibt nun an einem Buch.
„Täuschend echt“ von Charles Lewinsky: Endlich mal eine grässliche Frau – und eine KI
Beziehungsweise tun dies die Texterstellungsprogramme für ihn. Über seine woken Nachbarn („Bill und Belle“, herrlich), junge, wache Leute, die wissen, was richtig und was falsch ist, hat er den fürstlich bezahlten Job bekommen, eine Schicksalsgeschichte hochauthentisch aufzuschreiben. Ein Millionenerbe, Frank heißt er, will die Welt zu einem besseren Ort machen, indem er die Abgeschlagenen und Elenden zu Wort kommen lässt.
Der abgefeimte Erzähler erfindet nun eine Afghanin, deren Geschichte er als Ghostwriter in ein Buch umwandeln soll. Macht wie gesagt ChatGPT, und zwar auch für Charles Lewinsky: Die dramatische Lebensgeschichte ist der Text im Text in „Täuschend echt“, und sie wurde wirklich von ChatGPT geschrieben. Man erkennt sie an der Kursivierung, aber auch an den vielen Sprachklischees. Auftraggeber Frank verliebt sich dennoch in den Text, die Backstory ist ja auch zu geil: Vom Patriarchat geschundene Migrantin aus Kriegsland erzählt, wie es war. Ein als Denis Scheck im Roman auftretender Starkritiker erliegt ebenfalls dem Charme der Idee, dass eine vielfach geprüfte Frau sich ihr Leben vom Leib schreibt.
„Täuschend echt“ von Charles Lewinsky: Die grässliche Frau und der blöde Mann
Da wiederum kommt Sonja/Sibylle ins Spiel. Die ist mit einem Mal wieder da, aufgescheucht auch von einem Haftbefehl. Sie soll nun bei Scheck in der Sendung die Afghanin spielen, versteckt hinter einem Schleier. Dass sie mit dem Wissen um des Erzählers Über-Fake wieder alle Karten in den Hand hat, ist dem blöden Mann nicht so recht klar. Er muss sich dann wehren, und wie er das tut, wird hier nicht verraten. Sagen darf man, dass „Täuschend echt“ ein, aber ja, origineller, unterhaltsamer und smarter Roman über die Machtübernahme der anderen, der künstlichen Intelligenz ist.
Man darf beim Lesen auch mal schlucken, denn gruseliger als die grauenvolle, in ihrer Niedertracht sehr reale Ex-Freundin ist die nicht-reale „Kirsten“ allemal.
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