Hamburg. Sir John Eliot Gardiner und Christophe Rousset sind mit identischem Programm in der Elbphilharmonie. Klingt eigenartig? Ist es auch.

  • Sir John Eliot Gardiner hat einen Sänger tätlich angegriffen und sich danach monatelang aus der Klassik-Branche zurückgezogen
  • Inzwischen hat er neue Ensembles gegründet. Seine Ex-Ensembles gastieren in der Elbphilharmonie, mit einem neuen Dirigenten
  • Eine Woche vor deren Konzert dirigiert Gardiner das identische Programm

Zwei auf Barock spezialisierte Dirigenten, die aneinandergeraten und sich deswegen an einer prominenten Hamburger Kultur-Adresse duellieren? Fast auf den Tag genau vor 220 Jahren hatten wir das schon mal: Damals, am 5. Dezember 1704, waren es der 19 Jahre junge, aber ehrgeizige Georg Friedrich Händel und der vier Jahre ältere Johann Mattheson.

Bei einer Aufführung von Matthesons „Die unglückselige Cleopatra“ in der damaligen Hamburger Oper am Gänsemarkt gerieten sich die beiden Kollegen heftig in die Allongeperücken, weil Händel nicht wieder zurück in die zweiten Geigen wollte, nachdem Mattheson seinen Part als Marcus Antonius gesungen hatte. Nur ein stabiler Metallknopf an Händels Jacke sorgte dafür, dass dessen Karriere nicht schon mit diesem Duell endete, bevor sie Fahrt aufnehmen konnte.

P2023052907297 - Christophe Rousset, Les Talens Lyriques
Der französische Cembalist und Dirigent Christophe Rousset gründete 1991 das Alte-Musik-Ensemble Les Talens Lyriques und übernahm in diesem Jahr die Leitung der English Baroque Soloists und des Monteverdi Choir. © picture alliance/dpa/CTK | Roman Vondrous

Elbphilharmonie Hamburg: Zwei Dirigenten, ein Programm: Was soll das?

Am 7. Dezember 2024 kommt es an der Elbe zu einem mehr als eigenartigen Rematch einer Ego-Kollision. In der linken Ring-Ecke: Sir John Eliot Gardiner, der mit einem von ihm neu gegründeten Ensemble in der Elbphilharmonie auftritt. Jener Gardiner, der im vergangenen Jahr eine Auszeit nahm, nachdem er einen Bassisten hinter der Bühne geohrfeigt hatte, weil dieser seiner Meinung nach auf der falschen Seite von der Bühne abgegangen war.

Die Folgen für Gardiners Ausraster: Riesen-Shitstorm, jede Menge buchstäblicher Schlagzeilen, Reue-Schwüre und Therapie-Versprechen des damals 80-Jährigen, der von 1991 bis 1995 als Nachfolger von Günter Wand NDR-Chefdirigent in Hamburg gewesen war.

Dirigentenduell in der Elbphilharmonie: Gardiner gegen Rousset

In diesem Juli, fast ein Jahr später, folgte nach 60 (!) Jahren die Trennung von seinem Spezialisten-Ensembles English Baroque Soloists und dem Monteverdi Choir. Gardiner kehrte inzwischen in die Konzertpläne zurück. Die Freelancer-Truppen suchten und fanden unterdessen einen neuen Chef, den Franzosen Christophe Rousset, und planten mit ihm eine Advents-Tournee, um diesen Neustart sicht- und hörbar zu machen. Damit ist auch klar, wer in der anderen Ecke dieses Streits steht.

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Roussets Elbphilharmmonie-Termin: 14. Dezember, Großer Saal, mit Musik von Charpentier und zwei Bach-Kantaten. Ein klassisches Déjà-vu-Erlebnis, denn Gardiner wird mit seinem frisch gegründeten „Constellation Orchestra & Choir“ genau diese Stücke eine Woche vorher ebenfalls präsentieren. Welt-Premiere, und was für eine. Wie viele Musiker aus Gardiners Ex-Ensembles auch bei seiner Neugründung mit dabei sind, ist nicht klar. Und damit nicht genug: Wer wollte, als das bekannt wurde, konnte seine Rousset-Karten kostenlos gegen Gardiner-Tickets tauschen. Inzwischen sind beide Abende ausverkauft.

Elbphilharmonie Hamburg: „Der zurzeit abstruseste Kampf auf dem Klassikmarkt“

„Nur in der Elbphilharmonie gibt es die weltweit einmalige Gelegenheit, dieses spezielle Programm innerhalb kürzester Zeit in beiden hochkarätigen Interpretationen zu hören“, hatte die Elbphilharmonie im September in ihre Pressemitteilung geschrieben. Roussets Termin stand länger fest, Gardiners Konzert wurde kurzfristig nachnominiert, mitsamt dem Programm-Klon.

An keiner anderen Station der jeweiligen Tourneen findet eine derartige Konstellation statt, die sehr nach Revanche riecht. „Ich bin sehr aufgeregt und dankbar, dass ich wieder mit so außergewöhnlichen Musikern zusammenarbeiten kann – ohne die wichtigen Lektionen zu vergessen, die ich im vergangenen Jahr gelernt habe und lernen musste“, wurde Gardiner zitiert. Aber ganz so einfach kann und darf man es sich wohl nicht machen.

'George Frederick Handel', c1720, (1919). Artist: Unknown.
Der junge Georg Friedrich Händel absolvierte seine Ausbildungsjahre zum Thema Musiktheater an der Gänsemarktoper in Hamburg. Hier schrieb er auch seine ersten Opern. © picture alliance / Heritage-Images | picture alliance
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Händels Konkurrent im Hamburger Opernbetrieb: Johann Mattheson, Komponist und Musiktheoretiker. © picture alliance / akg-images | picture alliance

„Hamburgs Edel-Saal macht Reibach mit zwei extrem ähnlichen Abenden, es ist der zurzeit abstruseste Kampf auf dem Klassikmarkt“, wunderte sich der Münchner „Merkur“ am Ring-Rand. Was für ein Showdown am Elbufer.

Gardiner, der jahrzehntelang als schwierig im Umgang mit musikalischem Personal galt, schwieg bis jetzt zu dieser Provokation, bevor ein vage bleibendes Statement kam: „Es ist mir eine außerordentliche Freude, meine neuen Ensembles in Hamburg vorzustellen. Als ich die Einladung der Elbphilharmonie erhielt, konnte ich mir keinen besseren Ort für unser Eröffnungskonzert vorstellen, da ich das Hamburger Publikum stets als sachkundig und herzlich empfunden habe.“ Er hoffe nun auf einen freudigen Abend mit festlicher Musik.

Roussets O-Töne aus der anderen Ecke waren von nichtssagender Zurückhaltung geprägt: „Ich war von klein auf großer Fan des MCO und seines Gründungsdirigenten“, wurde er zitiert. „Es ist ein großes Privileg, mit diesem wunderbaren ,Instrument‘ arbeiten zu dürfen.“

Anders als einst am Gänsemarkt: 2024 ist ein Happy End in der Elbphilharmonie wohl nicht in Sicht

Erster fun fact am Rande: Pünktlich zu diesem sehr gemischten Doppel und dem nahenden Fest der Liebe erscheint bei der Deutschen Grammophon eine Neueinspielung von Bachs „Weihnachtsoratorium“ mit Gardiner – noch am Pult seiner Ex-Ensembles, aus dem Jahr 2022. Man könnte glatt an ein nur sanft angepasstes Sprichwort denken: Wenn zwei sich streiten, kassiert der Dritte. Der zweite Fun fact: Nach ihrem glimpflich ausgegangenen Duell am Gänsemarkt haben sich Händel und Mattheson halbwegs wieder zusammengerauft. 2024 ist so ein Happy End in der Elbphilharmonie wohl nicht in Sicht.

Konzerte: 7.12. The Constellation Choir & Orchestra. Sir John Eliot Gardiner (Dirigent). 14.12. English Baroque Soloists / Monteverdi Choir. Christophe Rousset (Dirigent). Elbphilharmonie, Gr. Saal. Evtl. Restkarten an der Abendkasse.

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