Hamburg. Zum Spielzeitbeginn der Elbphilharmonie dirigierte John Eliot Gardiner ein reines Berlioz-Programm. Großer Jubel, große Freude.

Man kann es sich auch einfacher machen mit dem Loslegen nach der Sommerpause. Eine Saison in der Elbphilharmonie aus dem Stand mit Berlioz zu beginnen, ist deswegen nicht die schlechteste Idee. Denn der formulierte wie kein anderer rhythmische Ideen und Klangmixturen, mit denen er seine braveren Komponistenkollegen lendenlahm und lauwarm wirken ließ. Kaum ­jemand sonst bringt den Puls so zuverlässig aus der Spätromantik-Komfortzone des ­gediegenen, bekannten Schönspielens wie dieses Genie.

Sir John Eliot Gardiner ist für ­penible Detailversessenheit ­bekannt und war in seiner Zeit als NDR-Chefdirigent genau deswegen auch ­berüchtigt. Eigentlich hätte er bereits in der letzten Saison seinen ersten Auftritt im Neubau an der Elbe haben sollen, mit den drei Monteverdi-Opern, mit ­deren Bündelung er damals bei mehreren Festspielen gebucht war, hatte ­Generalintendant Christoph Lieben-Seutter beim Vor-Konzert-Empfang ­berichtet. Es wäre eine deutlich andere Art der Umhörschule geworden, eine ganz andere gerissen auftrumpfende Lektion im Umdenkenmüssen. Dass Gardiner sein leicht überfälliges Debüt im Großen Saal nun mit Werken dieses charmanten Extremisten aus Frankreich ­absolvierte, fügte sich fein in den so gern betonten Anspruch des neuen Konzerthauses, hin und wieder die Standardrepertoire-Stützräder abzumontieren, die gute alte Laeisz­hallen-Planwirtschaft einzumotten und dann, frohgemut jauchzend, in die Risiko-Kurven hineinzubrettern.

Der Abend war mit Special Effects gespickt

Schon in den ersten Takten der Konzertouvertüre „Le Corsaire“ ist genügend Schmackes und Schmiss vorhanden, um kaltblütige Orchester-Charaktere ins Trudeln zu bringen: Alle Mann an Deck, jeder rasend wild aufs Entern der Herzen vor der Bühne, und wer ­zuerst ängstelt und bremst, hat verloren. Tolle Musik, großartige Musik, ­rasanter Kavalierstart hinein ins Vergnügen. Und um von Anfang an sichtbar zu machen, dass gediegener Pauschaldienst in den nächsten Stunden nicht angesagt sein wird, ließ Gardiner sein Orchestre Révolutionnaire et Roman­tique das Stück im Stehen spielen.

So kam es, dass der gesamte Abend mit Special Effects à la Berlioz gespickt war, manche größer und besser sichtbar als andere: Enger mensurierte Holzblasinstrumente aus der Entstehungszeit dieser Musik; die Horngruppe hatte etliche Ersatzbögen dabei, um für jeden harmonischen Purzelbaum in der Partitur ausgerüstet zu sein. Die Pauken rechts im Orchester und nicht mittig dahinter; neben den fast spielzeugzart gearbeiteten Posaunen, aus denen dennoch eine Menge ­herauskam, saßen zwei Fachkräfte mit Ophikleïden, diesen putzigen Promenadenmischungen aus Fagottform und Horn-Mutation mit vielen Klappen, ­deren Job im Orchesterkeller später deutlich satter von den ­dickeren Tuben übernommen werden sollte. Einer der beiden tauschte für die „Symphonie fantastique“ seine Rarität gegen den von Berlioz vorgeschriebenen Serpent ein, eine mittelalterliche Antiquität, die die Klangfarbenpalette mit einer weiteren Prise Geschichtskenntnis würzte.

Clevere Exzentrik

Darmsaiten ohnehin, Vibrato höchstens in Spurenelementen, die Phrasierung so knackig, sehnig und pointiert, als würde schon eine kleines bisschen Schmachten alles und jeden ins Verderben reißen. Akustisch besonders apart war die Idee, vier Harfen im Ball-Satz der „Symphonie fantastique“ mit dem Rücken zum Publikum an der vorderen Bühnenkante zu platzieren, während der Solo-Trompeter weiter hinten seine Passagen im Stehen blies. Doch dieser Berlioz-Hit, bravourös poliert und mit dem Hexensabbat-Rasen als Höllenmaschine de luxe, stand erst nach der Pause auf dem Programm; schon ­weit davor gab es Aha-Momente, die Berlioz’ Erfindungsreichtum ­betonten, und ebenso die Klasse der Ausführenden.

Das ging vom Hoch­heben der Hörner für mehr Halali, als wären wir schon ein halbes Jahrhundert weiter und bei frühem Mahler, in der „Chasse royale“-Orchesterepisode aus der Mammut-Oper „Les Troyens“ bis zum Neben­berufs-Singen der Streicher. Verglichen mit so viel cleverer ­Exzentrik wirkte der Dialog von Oboe und musikhistorisch abgesegnetem Englischhorn-Modell in der „Szene auf dem Lande“ beinahe schon harmlos und konventionell. Und Gardiner? Der ritt auf dieser Rasierklinge, als wäre das Ausrasten nach Vorschrift ganz einfach. Alles in ­allem: ein rauschendes Fest des gekonnt Eigenwilligen.

So weit, so flott, toll. Und dann noch Joyce DiDonato. Auch sie hat Berlioz-Kompetenz satt, hat mit ihrer glühenden Intensität und Rollendurchdringung einen Live-Mitschnitt von „Les Troyens“ massiv veredelt. Hier war es ihr vergönnt, zweimal als Tragödin ­extraordinaire zu glänzen. Ihr erster großer Auftritt: als sterbende Herrscherin in der Mini-Oper „La mort de Cléopâtre“, einer Sterbeszene, wie sie David Lynch sicher gern verfilmen würde. Den passenden Soundtrack gäbe es. Anschließend, nur als eher kurze Kostprobe, die Sterbeszene von Karthagos Königin ­Didon. Großer Jubel, große Freude. So darf es gern weitergehen.

CD-Tipps: Berlioz „Les Troyens“ (Warner,
4 CDs + DVD, ca. 25 Euro) Joyce DiDonato, Marianne Crebassa u.a. Orchestre philharmo­nique de Strasbourg, John Nelson. Joyce ­DiDonato & Brentano String Quartet „Into The Fire“ (Warner, ca. 15 Euro, erscheint am 7.9.) Werke von Strauss, Debussy, Heggie u.a.