Hamburg. Regisseur Till Wiebel entlockt mit „Die Leiden der jungen Werte“ dem Klassiker erfrischende Momente und radikale Brüche. Lohnt sich!
- „Die Leiden der jungen Werte“ von Regisseur Till Wiebel überschreibt den berühmten Briefroman von Johann Wolfgang von Goethe.
- Am Jungen Schauspielhaus ist das Stück noch im Januar und Februar zu erleben.
- Viele Lieder wurde in das Stück eingebaut, auch ein Disco-Rock-Klassiker von KISS.
Acht junge „Wertes“ stehen auf der Bühne des Jungen Schauspielhauses. Sie alle tragen schicke blaue Seidenhosen und elegante Rüschenblusen (Bühne und Kostüme: Karlotta Matthies), eine Anspielung an den blauen Tuchfrack und die gelbe Weste, die 1774, also vor 250 Jahren, als der Dichter Johann Wolfgang von Goethe den berühmten Briefroman „Die Leiden des jungen Werther“ schrieb, zum Mode-Hit wurden. Das „Werther-Fieber“ brach aus. Alle unglücklich Liebenden konnten sich mit dem schmalen Büchlein identifizieren, in dem der Rechtspraktikant Werther so obsessiv wie aussichtslos in die – an Albert vergebene – Lotte verliebt ist.
Die Übermacht des Gefühls, das mit großer Wucht hereinbricht, ist ein Privileg der Jugend, und so ist auch diese Überschreibung des Klassikers mit dem Titel „Die Leiden der jungen Werte“ in der Regie von Till Wiebel im Format „SchauSpielRaum“ für Menschen ab 13 Jahren bestens aufgehoben. Ein achtköpfiges Ensemble aus jungen Menschen zwischen 16 und 23 Jahren nimmt es spielfreudig mit den im Sturm-und-Drang-Roman verhandelten Themen auf – und hinterfragt seine heutige Bedeutung. „Eine Sache bleibt immer gleich, wenn man sich nicht zurückliebt, dann entsteht ein Konflikt. Und manchmal geht jemand daran zugrunde“, erklärt eine Spielerin. Aber im Chor betonen sie auch: „Lass diese Geschichte Dein Freund sein!“
„Die Leiden der jungen Werte“: Ungemein frisch und befreiend
Das tragische Moment der unerwiderten Liebe erzählt auch davon, dass man zu einer solchen Intensität überhaupt fähig ist. Und es gibt eben auch den Augenblick der Emanzipation aus einer vermeintlichen Ausweglosigkeit: die Erkenntnis, dass der eigene Wert nichts mit dem Außen zu tun hat.
Die Spielenden schieben einen historischen Bühnenvorhang im Kreis, bewegen sich zwischen Harmonium und Piano, diskutieren, tanzen und singen. Vor allem eine sehr schöne, zarte Version von „I Was Made For Lovin‘ You“ von KISS. Die Lieder nehmen mit der Zeit zwar etwas überhand, das geht aber in Ordnung, weil natürlich die Liebe – vor allem die alles verzehrende – das Thema in der Pop-Musik schlechthin darstellt.
So inspirierend hat man den „Werther“ selten verhandelt gesehen
Viel pointiert ironisches Spiel ist zu sehen, mit schönen Momenten der Wahrhaftigkeit – auch mal der Heiterkeit. Bis zu dem Moment, an dem es darum geht, dass man an der Liebe auch „zugrunde gehen“ kann. So wie einst Werther, der aus einem Moment der Verzweiflung heraus die Selbsttötung wählte. Ein herausforderndes Thema auf einer Theaterbühne. Regisseur Wiebel entscheidet sich für einen radikalen Bruch, das Theatrale verharrt zugunsten einer Aufklärungslektion inklusive Hilfsangeboten.
In dieser klugen Inszenierung werden alle Gefühle benannt und ernst genommen und das hat etwas ungemein Befreiendes. So frisch, inspirierend und anregend hat man den „Werther“ selten verhandelt gesehen.
„Die Leiden der jungen Werte“ weitere Vorstellungen 3.1., 19 Uhr, 4.1., 19 Uhr, 18.2., 19 Uhr, Studio Wiesendamm im Jungen Schauspielhaus, Wiesendamm 28, Karten unter T. 24 87 13; www.junges.schauspielhaus.de
Sternstunde oder Reinfall? Jeden Monat rezensieren wir für unsere Abonnentinnen und Abonnenten mehr als 100 Konzerte, Theatervorstellungen, Choreografien, Bücher, Ausstellungen, Serien oder Filme. Hier finden Sie alle Kritiken – was Sie in Hamburg gesehen, gehört oder gelesen haben müssen!