Hamburg. Die Thalia-Darstellerin Karin Neuhäuser ist für den begehrten Faust nominiert. Heute entscheidet sich in Leipzig, ob sie ihn gewinnt.
Die Näscherei auf der Uhlenhorst ist ein Café, das nicht nur ältere Damen schätzen. Karin Neuhäuser aber ist eine von ihnen. Die Thalia-Schauspielerin wohnt ganz in der Nähe und liebt die skandinavische Gemütlichkeit. Neuhäuser ist bei den Hamburgern äußerst beliebt – steht sie auf der Bühne und sondert ein paar pfeilgenaue Sätze ab, meist in lakonischem, direktem Humor, sorgt sie zuverlässig für Lacher. Für ihren Auftritt in Sebastian Nüblings Jelinek-Inszenierung „Wut/Rage“ ist sie für den Deutschen Theaterpreis Der Faust als beste Darstellerin nominiert. In der Inszenierung monologisiert sie eine lange Suada der Literaturnobelpreisträgerin über Wutbürger, Hass, Veränderungen, Stimmungen, während sie als Feuerwehrfrau in aller Seelenruhe ein Absperrband aufrollt. An diesem Freitag ist die Verleihung in Leipzig.
„Natürlich freue ich mich, wenn ich so einen Preis kriege. Das ist ja immer eine Anerkennung der Arbeit“, sagt Karin Neuhäuser mit ihrer schnarrend rauen Stimme. „Wenn ich ihn nicht kriege, freue ich mich mit einem der beiden Herren.“ In ihren Turnschuhen, Wollmantel, mit Rucksack und den charakteristischen grauen Zöpfen wirkt die 62-jährige Grande Dame des Theaters nahezu alterslos. Und wie viele, die auf der Bühne sehr komisch sein können, ist sie in der Begegnung ein eher ernsthafter Mensch. Zu einer Hyperfröhlichkeit sei sie gar nicht in der Lage – oder müsste sehr viel trinken, sagt sie.
„Wut/Rage“ war keine einfache Arbeit. „Schon in meiner ersten Jelinek-Begegnung, ‚Winterreise‘, hätte ich sie schlagen können, weil ich mich wahnsinnig schwertat, den Text zu lernen“, sagt sie. „Bei „Wut/Rage“ gibt es keine szenische Einbindung. Das ist ja ‚nur‘ präzises Denken, mehr nicht. Da stecken Assoziationssprünge drin, die ich nicht verstehe, die sie vielleicht selbst nicht versteht, sodass man sich die absurdesten Eselsbrücken bauen muss.“ Am Ende hat sie ihre Souffleuse „Elfie“ genannt.
Neuhäuser hatte Zweifel, ob sie, die ab 2005 freiberuflich gespielt hat, überhaupt noch einmal in ein festes Ensemble gehen soll. Das Thalia-Ensemble, dem sie seit 2009 angehört, sei aber sehr besonders. „Wir halten uns gegenseitig. Das sind alles unprätentiöse, hochbegabte Protagonisten, die auch mal in zweiter Reihe stehen, wenn es sein muss. Ich spiele ja auch oft feine, aber kleine Rollen.“ Darauf rasselt sie ihr kehliges Lachen.
Auch eine komödiantische Seite
Das stimmt einerseits. Neuhäuser spielt die Mutter Aase in „Peer Gynt“, den Komtur in „Don Giovanni“, aber in fast allen Rollen hat sie ihre kurzen, aber prägnanten Auftritte und kommentiert das Geschehen mit direktem Humor. „Das habe ich eigentlich alles selbst erfunden“, sagt sie. Neuhäuser mag klassische Texte genauso wie Projekte, in denen sie sich stark selbst einbringen muss. Das entspricht ihrem Theaterverständnis.
Derzeit glänzt sie auch als divenhafte russische Erbtante in Dostojewskis „Der Spieler“ in der Regie von Jan Bosse. Diese Rolle zeigt wieder ihre komödiantische Seite. „Das ist mir wohl auf den Leib geschneidert. Da steckt ganz viel drin, was ich wohl mitbringe“, sagt sie. „Das Direkte, Ungekünstelte sagt man mir nach. Der hohe hohle Ton liegt mir nicht, womit ich nicht meine, dass ich nicht pathetisch sein kann.“
Zarte Musikalität
Regisseur Jan Bosse, der auch an anderen Theatern viel mit ihr gearbeitet hat, sagt: „Karin Neuhäuser? Lieblingsschauspielerin! Urgewalt und Grazie! Ihr furztrockener Humor ist so mitreißend wie ihre zarte Musikalität und sexy Eleganz. Und wehe, wenn sie schlecht gelaunt ist: Dann wackelt die Probebühne.“ Neuhäuser mag die gemeinsame Suche. Wie ein Regisseur zu denken, hat sie in prägenden Jahren bei Roberto Ciulli in Mülheim gelernt.
Der Beruf war ihr nicht in die Wiege gelegt. 1955 in Leonberg geboren, lebte sie als fünftes Kind entbehrungsreiche Jahre in einer Flüchtlingsbaracke, der Vater starb früh. Neuhäuser war viel in der Natur, die vor der Tür lag. Es gab Schönes, aber auch viel Schreckliches laut ihrer Erinnerung. Das Lesen in der Bücherei und das Theaterspiel in der Schule waren ihre Rettung. Einige ihrer Lehrer besuchen heute noch ihre Vorstellungen. Das Lehramtsstudium brach sie ab, um auf die Schauspielschule in Bochum zu gehen. Hier traf sie auf den Schauspieler Josef Ostendorf, mit dem sie später, bereits als fast 30-Jährige, gemeinsam im „Faust“ spielte. Nachdem man ihr zuvor gesagt hatte, sie sei weder eine Julia noch ein Gretchen.
14 Vorstellungen im Monat
Mit Ostendorf teilt Karin Neuhäuser in Hamburg nach Bochum und Zürich bereits die dritte Wohngemeinschaft gemeinsam mit einer Kostümbildnerin. „Das funktioniert super“, sagt sie. Ihre Wohnung in Berlin sieht sie nur selten. In den vergangenen Jahren kam zum Spielen noch die Regie dazu in Düsseldorf, Köln, Münster oder Kassel. „Das ist eine Erweiterung von dem, was ich mache, aber ich bereite mich wahnsinnig gründlich vor.“
Karin Neuhäuser stärkt sich mit einem zweiten Cappuccino und einem Stück Kuchen. Derzeit liegt die Regie auf Eis. Neuhäuser spielt rund 14 Vorstellungen im Monat, hinzu kommen Proben. Die Pläne sind eng. Große Brocken wie Jette Steckels „Das achte Leben (Für Brilka)“, einer ihrer Lieblingsabende, verlangten dem ganzen Team alles ab.
Sie spielt auch im neuen Fatih-Akin-Film
Selten, in den Sommerferien, findet sie Zeit für Filmdrehs. Im vergangenen Sommer kam ein tolles Angebot. Mit dem experimentellen US-Filmer Terrence Malick drehte sie mit einer Top-Riege europäischer Darsteller (Matthias Schoenaerts, August Diehl, Michael Nyqvist) „Radegund“. Sie spielt darin die Mutter eines österreichischen Widerstandskämpfers, gespielt von August Diehl. „Malick sammelt Material für acht Filme und schneidet dann zwei Jahre lang“, sagt sie. „Das war fast wie eine Theaterarbeit. Kein künstliches Licht, keine Umbauten. Einmal sagte er mir: Geh einfach auf und ab und denke über dein Leben nach, also über das der Figur. Dann hielt er 14 Minuten lang die Kamera drauf.“ Auch in dem demnächst anlaufenden Fatih-Akin-Film „Aus dem Nichts“ hat sie ein paar Szenen.
Es ist schon seltsam, wenn sie heute darüber nachdenkt, was ihr am Anfang ihrer Karriere nach dem Vorsprechen an der Schauspielschule Ernst Busch an Defiziten bescheinigt wurde: „Keine Stimme, kein Temperament, keine innere Beteiligung“. Den Beurteilungsbogen hat sie aufbewahrt. Doch heute kann sie herzlich darüber lachen.