Hamburg. Mit Ex-Ermittler Boris Aljinovic hat im Ernst Deutsch Theater „Der Geizige“ Premiere. Warum Anatol Preisslers Neufassung zündet.
Ist Geiz noch geil? Das ließe sich in Anlehnung an einen rund zwei Jahrzehnte alten Werbeslogan fragen, wenn man an Molière denkt. Der französische Dichter schuf vor 355 Jahren mit „Der Geizige“ ein Werk, welches das Genre Komödie auf eine Stufe mit der Tragödie hob.
Doch was geht da jetzt im Ernst Deutsch Theater ab? Polka-Klänge, der Vorhang nur leicht angehoben, zu sehen sind bloß hin und her trippelnde Füße. „Molière, der ist auch schon ganz schön alt. Hoffentlich wird das heute nicht wieder so ein neumodischer Mist ...“, sagt ein Mann aus dem Off (übrigens „Die drei ???“-Sprecher Jens Wawrczeck). Es ist der selbstironische Prolog einer Inszenierung, die ganz viel für Ohren und Augen sowie fürs Gemüt bieten wird. Was für ein Geschenk, welch ein tolles Überraschungspaket in diesen trüben und tristen Zeiten!
Ernst Deutsch Theater Hamburg: Welch ein Geschenk – Molière als prächtiges Überraschungspaket
Davon zeugt nach rund zweieinhalb Stunden Amüsement nicht nur der minutenlange Beifall des Premierenpublikums für die sieben Mitwirkenden und das Regieteam um Anatol Preissler. Der gebürtige Münchner erweist sich mit seiner Neufassung dieses Komödien-Klassikers einmal mehr als ein Mann, der viel wagt und fast immer gewinnt.
Seit er 2016 mit Oscar Wildes origineller „Bunbury“-Inszenierung sein Debüt am Ernst Deutsch Theater gegeben hatte, hat der Regie-Maniac aus bekannten Stoffen immer wieder Neues sowie aus den Schauspielerinnen und Schauspielern alles herausgeholt. Vor zwei Jahren etwa in der Operette „Die Großherzogin von Gerolstein“ mit aktuellen Anspielungen auf Putin. Und zuvor, kurz nach Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine, auch mit Humor und Musik aus Tschechows Drama „Onkel Wanja“.
Wie damals füllt Boris Aljinović in „Der Geizige“ die Titelrolle aus, ein Protagonist zwar, jedoch nur einer der Könner im großartigen homogen Darsteller-Septett. Der frühere Berliner „Tatort“-Ermittler ist als Harpagon, Vater von Cléanthe und von Élise, einzig verliebt in seine Goldschatulle. Die hat er im Garten seines Anwesen vergraben. Für seine Kinder will der Tyrann, der Begriff „Erbsenzähler“ ist noch das harmloseste vieler Schimpfwörter für ihn, rein gar nichts rausrücken. Dass seine Heiratspläne für die Kinder Teil seiner krankhaften Sparsamkeit sind, versteht sich fast von selbst. Aljinović gibt seinen Harpagon mit immer neuen Grimassen der Lächerlichkeit preis.
Ernst Deutsch Theater Hamburg: Was noch verzückt, ist die Livemusik
Tochter Élise (Annika Martens), im knallig-gelben Tüll-Kleidchen eher an einer Zuckerwatte denn an den Lippen des Vaters hängend, hat er dem begüterten, alten Anselme versprochen. Für den großen Sohn Cléanthe (Daniel Schütter) hat Harpagon eine reiche Witwe vorgesehen, für sich selbst eine Ehe mit der jungen, schönen Marianne. Wie Ines Nieri in ihrer Rolle erst heimlich, dann offensichtlich den vom künftigen Co-Intendanten Schütter dandyhaft-tumb gespielten Cléanthe anhimmelt, ist wunderbar überzeichnet Und dann ist da noch Valère (David Berton), der sich im Haus des Geizigen eingeschleimt hat, jedoch Elises Liebhaber ist. „Wann ist denn Mann ein Mann?“, lässt ihn, mit schönem Gruß an Herbert Grönemeyer, Regisseur Preissler in seiner Neuübersetzung fragen.
Als Harpagons ach so wertvolle Kassette verschwunden ist, droht dessen Leben vollends aus den Fugen zu geraten: „Meine Rente, 40 Jahre hab ich eingezahlt“, flucht er. Mittendrin als heimlicher Star dieser Inszenierung: Dagmar Bernhard. Als Butler Punaise pendelt sie als ein „Diener zweier Herren“ (nach dem italienischen Dramatiker Carlo Goldoni) wie ein Harlekin in Pumphosen zwischen Vater und Sohn, springt auch in Nebenrollen wie Koch, Kutscher und Polizist. Als solcher maßregelt sie äußerst komisch im österreichischem Dialekt alle Versammelten.
Zu denen gehört last but not least Oliver Warsitz. Hat er in seiner Rolle als Heiratsvermittlerin Frosine bei manchen zunächst Erinnerungen an „Charlys Tante“ geweckt, schreitet er schließlich als Valères und Mariannes Vater Anselme ins Haus. Kleiner Tipp für künftige Zuschauer: Man beachte das Euro-Zeichen über der Doppel-Tür (Bühne: Heiko Mönnich)! Ohne Moos ist hier nix los.
Mehr Hamburger Kultur
- English Theatre: Perfekter Nonsense, der das Publikum umhaut – eine Kritik
- Premiere in Hamburg: „MJ – Das Michael Jackson Musical“ – Was Fans jetzt wissen müssen
- Ohnsorg-Star Herma Koehn tritt beim literarisch-musikalischen Adventskalender auf
Was an dieser zeitlosen Komödie über Liebe, Laster und Zaster außer dem Bezug zur Gegenwart zudem verzückt, überrascht und weitgehend passt, sind die vom Regisseur ausgesuchten unterschiedlichen Musiktitel: Von Dr. Hooks „Millionaire“ über „Another Love“ vom Tom Odell und Johnny Cashs „I Walk The Line“ bis zu „Italodisco“ und „Unchained Melody“ reicht die Bandbreite. Von Berton (Gitarre), Schütter (Piano und Percussion) und den weiteren fünf alles live gespielt und gesungen. Ohne dass hier Molière verraten geschweige denn verkauft wird. Famos!
„Der Geizige“ wieder Fr 29.11., Sa 30.11,, So 1.12., jew. 19.30, bis 10.1. 2025, Ernst Deutsch Theater (U Mundsburg), Friedrich-Schütter-Platz 1, Karten zu 22,- bis 44,-; www.ernst-deutsch-theater.de.
Und: Alle Abonnenten des Abendblatts erhalten vom 29.11. bis 22.12 je nach TreueKarte zehn bis 25 Prozent Rabatt unter T. 040/22 70 14 20 oder per E-Mail an: tickets@ernst-deutsch-theater.de
Sternstunde oder Reinfall? Jeden Monat rezensieren wir für unsere Abonnentinnen und Abonnenten mehr als 100 Konzerte, Theatervorstellungen, Choreografien, Bücher, Ausstellungen, Serien oder Filme. Hier finden Sie alle Kritiken – was Sie in Hamburg gesehen, gehört oder gelesen haben müssen!