Hamburg. Exzellent! Wie viel Oper in Mozarts Requiem steckt, zeigt der Abend mit dem Balthasar-Neumann-Chor und -Orchester. Eine euphorische Kritik.

Auf dem Weg durch die feucht-mild-windige Nacht von der Elbphilharmonie zur U-Bahn wehen Gesprächsfetzen durch die trottende Menge. „Ich fand die Sopranistin…“ oder „… immer mitsingen…“, aber auch ein halblauter, erfüllter Ausruf: „Großartig!“ Das Erlebte wirkt noch nach. Gerade hat das Publikum Thomas Hengelbrock und seine Balthasar-Neumann-Ensembles plus Solistenriege gefeiert.

Elbphilharmonie Hamburg: Thomas Hengelbrock reißt das Hamburger Publikum zu Jubelstürmen hin

Vollkommen berechtigt, was die künstlerische Leistung angeht, einerseits. Andererseits, seltsam ist es schon, in der Woche zwischen Totensonntag und ersten Advent Bachs „Christ lag in Todesbanden“ aufzuführen; das geniale Frühwerk ist eine Osterkantate. Hallo? Kirchenjahr? War da was? Oder spielt das in diesem weltlichen Rahmen eh keine Rolle mehr?

Seltsam ist es auch, eine Kantate zu hören und so gar keinen kühlen Zug an den Beinen zu spüren, wie er zu einem ordentlichen geistlichen Konzert dazugehört – in der Kirche. Gar nicht selbst die Ohren aufstellen zu müssen, um einer im Zweifel nur mittelgünstigen Akustik die Details zu entlocken. Im Großen Saal der Elbphilharmonie kriegt man ja alles aufs Übersichtlichste serviert. In den allerersten Takten fällt der Instrumentalklang denn auch ein wenig auseinander.

Tenor Mirko Ludwig beschert Elbphilharmonie-Publikum berührenden Moment

Aber dann. Dann nimmt das Stück in einer Weise Fahrt auf, dass man nicht weiß, worüber man mehr staunen soll: über die Raffinesse, mit der der blutjunge Bach sich den hohen Stil des 17. Jahrhunderts angeeignet hat, oder darüber, wie Chor und Orchester diese Vielstimmigkeit zum Blühen bringen. Jedes Wort ist zu verstehen, die Koloraturen glitzern.

Mittendrin hält der fast perkussive Rhythmus inne, und der Tenor Mirko Ludwig beseufzt mit der Sologeige „Tod’s Gestalt“. Es ist ein geradezu expressionistischer Moment, kurz wie ein Wimpernschlag, dann tritt Ludwig zurück in die Tenorgruppe, und die Geigen nehmen ihre eilenden Figuren wieder auf.

Die Menschen lauschen mäuschenstill. Gekommen sein dürften sie vor allem um des zweiten Programmpunkts willen, Mozarts Requiem. Das Publikum, es besteht an diesem Abend gefühlt großteils aus Chorsängerinnen und Chorsängern, könnte das Stück vermutlich mitsummen. Aber Hengelbrock wäre nicht Hengelbrock, würde er es nicht wie ein taufrisches Werk präsentieren. Wenn die Celli in den ersten Takten ihre Töne einschlagen wie Nägel ins Kreuz, verweist das über allen landläufigen Mozart-Schmelz hinweg auf die urkatholische Botschaft. Tod, Hölle, Fegefeuer, alles dabei.

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Elbphilharmonie Hamburg: Die Stille darf sich entfalten, bevor wahre Jubelstürme losbrechen

Zugleich versöhnt sich Sakrales mit Opernhaftem. Dies ist schließlich Mozart. Warum auch nicht? Um die wirklichen wichtigen Fragen geht es doch in beiden Genres. Das führen die Sopranistin Carolyn Sampson, die Mezzosopranistin Eva Zaïcik, der Tenor Benjamin Bruns und der Bass Tareq Nazmi ergreifend vor. Zauberhaft klingen sie alle. Und gehen doch am meisten zu Herzen, weil sie sich, rare Tugend, als Ensemble verstehen.

Eine gefühlte Ewigkeit steht der hohle Schlussakkord im Raum, weder Dur noch Moll. Die Stille darf sich entfalten, bevor wahre Jubelstürme losbrechen. Auch das wieder ein bisschen seltsam bei einem Requiem. Doch darunter liegt eine kollektive Einigkeit: etwas Wesentliches erlebt zu haben.

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