Hamburg. Fetter wird‘s nicht: Die US-Alternative-Rock-Helden haben ihr 30 Jahre altes Album „Betty“ live gespielt. Kopfnicker-Papis gefällt das.
Wie karg kann die Bühne eines Rockkonzerts 2024 sein? Die US-Heavy-Rock-Veteranen Helmet meinen: Ja. LED-Wände, Laser-Show, Pathos, Kostüme? Können andere machen. Am Freitagabend in Hamburg müssen ein formschön thronendes Schlagzeug, seidig geraffter Hintergrundstoff und vier normale Ottos in unprätentiöser Ottonormalklamotte reichen, um die ausverkaufte, nostalgieschwangere Markthalle ab Riff eins vibrieren zu lassen.
Auf dem Programm steht eines der prägendsten Alternative-Alben seiner Zeit. „Betty“ kam 1994 heraus, und soll nach dem 20. Geburtstag 2014 im Knust noch einmal Song für Song live gefeiert werden. „30th Anniversary Tour“ heißt das dieses Mal. Oder: Back in the days mit Helmet. Gut gereiften Metal-Papis gefällt das.
Helmet in Hamburg: Neurologisch bedenklicher Kopfnicker-Alarm in der Markthalle
Als das letzte verbliebene Gründungsmitglied und Gitarrenpapst Page Hamilton grußlos um 20.15 Uhr mit seinem Gefolge den Arenakessel betritt, wird noch artig geklatscht und gepfiffen. Doch kaum ist das schräge Anfangsriff von „Wilma’s Rainbow“ verklungen, herrscht neurologisch bedenklicher Kopfnicker-Alarm in der Menge aus grauen Bärten und Basecaps. So jung wie 1994 ist ja keiner mehr.
Zur Erinnerung: 1994 war das Jahr, in dem sich Kurt Cobain das Leben genommen und Sony die erste PlayStation auf den Markt gebracht hat. Auch der 11. September war noch ein Tag wie jeder andere. In diese vergleichsweise unbekümmerte Zeit meißelte Helmet den monolithischen Brocken „Betty“ aus dem Fels der Musikgeschichte. Damals war die von Hip-Hop-Fachmann T-Ray (u. a. Cypress Hill) gnadenlos überproduzierte Platte das fetteste, was man für die frisch verschraubte Bassbox im Golf II kriegen konnte. Heute ist „Betty“ noch immer eine gottlos groovende Wuchtbrumme.
Konzert in der Markthalle: Das Schlagzeug pumpt wie sonst nur 16-Jährige im Gym
Beweise? In der Markthalle pumpt das Schlagzeug beim frenetisch gefeierten „Milquetoast“ wie sonst nur 16-Jährige im Gym. Auf den grollenden Basslinien und den gehackt gelegten Gitarren von „Tic“ kann man Eier braten. Und die enervierend gegniedelten Soli von Frontgniedler Hamilton zersägen die strenge Albumplaylist im ersten Teil der Show in umjubelte Häppchen. Die Bierbecher zum Gruß, mein Gebieter!
Überhaupt ist Chefgrummler Page Hamilton gut drauf und plaudert im Zugabenteil sogar ein wenig auf Deutsch über seine Stuttgarter Zeit, wo er mal gelebt hat: Mit kahlgeschorenem Haupt optisch längst zum Dozent für jüngere amerikanische Geschichte gereift, nölt, bellt, knurrt und leidet der ewig junge 64-Jährige die Songs zuverlässig in seinen gegabelten Mikroständer. Ein Minnesänger wird der Mann nicht mehr. Aber Helmet ist nur Helmet, wenn es auch ein bisschen wehtut.
Zeitreise mit Helmet: Die Bierbecher zum Gruß, du schönes 1994!
Unzerstörbar tight ist dagegen der wuchtige Schlagzeugsound von „Betty“. Die unverwüstlichen Beats, einst eingespielt von John Stanier, sind Taktgeber der überschaubaren Dramaturgie des Hamburger Abends. Ansagenlos bolzt sich die aktuelle Besetzung mit Dave Case (Bass), Dan Beeman (Gitarre) und Kyle Stevenson (Drums) durch das drei Jahrzehnte alte Material. Schön etwa, wie die liebliche Jazzgitarre in „Beautiful Love“ auch live erst misshandelt, dann zerstückelt und später zum Trocknen aufgehängt wird. Nach dem geschunkelten Country-Rausschmeißer „Sam Hell“ ist fünf Minuten Pause.
Aktuelle Konzert-Kritiken
- Playback-Porno-Partyschlager mit Mia Julia in der Sporthalle Hamburg
- Sum 41 in der Barclays Arena: Bitte löst euch nicht auf
- Konzert Hamburg: The Human League im Docks – ein Energiesturm ist das leider nicht
Zeit für die ehemaligen Bescheidwisser im Publikum, noch mal über das Gesehene zu reflektieren. Wie zeitlos das noch klingt! Nicht vergessen werden darf ja, dass sich „Betty“ im musikalischen Fruchtbarkeitsrausch des Jahres 1994 gegen Meilensteine wie „Ill Communication“ (Beastie Boys), „Superunknown“ (Soundgarden), „Dookie“ (Green Day), „Monster“ (REM), „Dummy“ (Portishead), „Music for the Jilted Generation“ (The Prodigy) oder „Troublegum“ (Therapy?) behaupten musste. Im Veteranenstadl auf der Raucherterrasse ist man sich jedenfalls einig: Wenn Musik 2024 denkt, sie sei krass, summt Tori Amos irgendwo leise „Cornflake Girl“.
Black Sabbath im Helmet-Gewand: Ein toller Brocken fürs Hamburger Publikum
Im zweiten Teil werden die vier Angebeteten zusehends lockerer - und auch die wogende Menge taut auf. Ein armer Irrer wagt Crowdsurfing, die Intensität der Bierbecherwürfe steigt, der ganze Markthallenkessel wippt. Derweil prügelt sich die Band knochentrocken, aber munter eine Dreiviertelstunde lang durch den eigenen Backkatalog.
Bevor um kurz vor 22 Uhr nach fast zwei Stunden wirklich Schluss ist, bietet die von Stadt zu Stadt äußerst variable Setlist des zweiten Teils noch das Black-Sabbath-Cover „Symptom Of the Universe“. Und da „Betty“ laut übereinstimmenden Zeitzeugenberichten nur die zweitbeste Platte nach „Meantime“ (1992) ist, werden der packende Indie-Disco-Knaller „Unsung“ und der titelgebende Frontalangriff „Meantime“ mit extra viel Hingabe von der Nackenmuskulatur aller Beteiligter aufgenommen.
Licht an, Hände hoch, das wars: Am Ende grasen die Dabeigewesenen noch grinsend am Merch-Stand („Sorry, sold out!“), bevor der allergrößte Teil des sehr männlichen Publikums ob des schönen Flashbacks selig nach Hause trottet. Laut Gesichtskontrolle war das für viele ein märchenhafter Abend. Und wenn Page Hamilton und Konsorten nicht gestorben sind, dann gniedeln sie noch heute.
Sternstunde oder Reinfall? Jeden Monat rezensieren wir für unsere Abonnentinnen und Abonnenten mehr als 100 Konzerte, Theatervorstellungen, Choreografien, Bücher, Ausstellungen, Serien oder Filme. Hier finden Sie alle Kritiken – was Sie in Hamburg gesehen, gehört oder gelesen haben müssen!