Hamburg. Die US-Amerikanerin Elizabeth Strout erhielt in Hamburg den Siegfried-Lenz-Preis. Und wurde dabei kräftig gefeiert.

Das Vermögen, der Wille und der Wunsch dieser Autorin, sich in andere Menschen hineinzuversetzen, ist auf jeder Seite ihres Oeuvres belegt. Das ist wahrscheinlich keine Übertreibung; bei Preisverleihungen sind superlative Belobigungen ohnehin an der Festtagesordnung.

Die US-amerikanische Autorin Elizabeth Strout erhielt am Freitag im Rathaus den Siegfried-Lenz-Preis. Eine 50.000 Euro schwere Literaturauszeichnung, eine der bestdotierten im deutschsprachigen Raum überhaupt. Den Pulitzerpreis hat Strout ja vor einigen Jahren mal bekommen, sie kennt höchste Weihen also.

Siegfried-Lenz-Preis für Autorin Elizabeth Strout

Wie Richard Ford, ihr Landsmann und Lenz-Peisträger 2018, der sich kürzlich bei einer Lesung in Hamburg ziemlich explizit über den Stellenwert seiner Zunft in Amerika äußerte. Sinngemäß und sprachlich derber sagte Ford, dass sich niemand in seinem Heimatland dafür interessiere, was Schriftstellerinnen und Schriftsteller sagten. In Europa, so will man zumindest gar zu gerne glauben, ist das noch anders.

Genau das könnte Strout empfunden haben, als sie nun im Rathaus gefeiert wurde. Riesiger Festsaal, riesige Wandgemälde, ein Klassik-Quartett, Brahms, Händel und Mozart als Soundtrack, und der Bürgermeister des stolzen Hamburgs sprach ein Grußwort. Wer mag da von der Marginalisierung von Literatur reden?

Man glaubte deswegen unbedingt den überschwänglichen Dankesbekundungen („Ich werde diesen Tag mein ganzes Leben lang nicht vergessen“) Strouts, die mit ihrem Mann, einem Juristen, nach Hamburg gekommen war.

Elizabeth Strout ist die Porträtistin des Alltagslebens

Am Abend vor der Preisverleihung trat sie in weniger förmlichem Rahmen beim NDR auf. Vor mehr als 300 Besucherinnen und Besuchern im Rolf-Liebermann-Studio, nicht wenige von ihnen ihr treu ergebene Leser. Strout ist die Autorin von gleichermaßen in Amerika und Deutschland viel gelesenen Romanen wie „Alles ist möglich“ und „Die langen Abende“ und Schöpferin der unvergesslich störrisch-herben Figuren Olive Kitteridge und Lucy Barton. Das hat ihr Fans beschert.

Und die hörten dem weit gereisten Gast gerne zu, wie er von frühen Fehlschlägen – Verlagsabsagen en masse! – und schriftstellerischen Arbeitsprozessen berichtete. Olive Kitteridge, die manch einer und manch eine auch aus dem HBO-Mehrteiler mit Frances McDormand in der Hauptrolle kennen dürfte, sei ihr einst beim Ausräumen der Spülmaschine begegnet, sagte Strout. Was nach einer vielleicht auch ein bisschen betulichen Anekdote klingt, ist im Werk der Autorin verankert.

Denn Elizabeth Strout ist die Porträtistin des Alltagslebens. Genauer: die Porträtistin des kleinstädtischen Alltagslebens. In der Provinz ist alles eng, aber die Seelen sind weit aufgespannt, obwohl nie jemand über irgendetwas große Worte macht. Es geht bei Strout um große und kleine Dramen, um Ehebruch, Außenseitertum, Inzest, Armut. Ihre Heldinnen – die Mathelehrerin Kitteridge und die Schriftstellerin Barton treten in ihren Büchern immer wieder auf – und Helden sind oft ganz „kleine Leute“, Hausmeister etwa. Strout („Ich habe lange gebraucht, um meine literarische Stimme zu finden“) legte auf der NDR-Bühne ihr literarisches Programm dar: Sie wolle denen eine Stimme geben, die sonst nicht zu Wort kommen.

Die Jury preist in ihrer Erklärung insbesondere das konzentrierte Schreiben Strouts: Auf „denkbar knappe Weise“ bündele sie „menschliche Verhaltensweisen“ und zeige „die Niedertracht und die Hilflosigkeit ihrer Akteure“, „deren Sprachlosigkeit und Traurigkeit darüber, was im Leben verpasst wurde“. Gleichzeitig mischten, so die Jury, Strouts Romane „Humor und Tragik und lassen allen Schicksalsschlägen zum Trotz jene Glücksmomente aufblitzen, die das Leben zu meistern helfen“.

Elizabeth Strout ist eine moderne Klassikerin, deren Werk im Rathaus auch von Günter Berg, dem Chef der Lenz-Stiftung, und dem Ersten Bürgermeister Peter Tschentscher („Strout gilt als gute Menschenkennerin, die besondere Charaktere beschreibt und einen ungeschönten Blick auf die amerikanische Gesellschaft wirft“) wortreich gepriesen wurde. Am sensibelsten näherte sich jedoch die Autorin und Journalistin Gabriele von Arnim in ihrer Laudatio der Schriftstellerin Elizabeth Strout.

Von der Mutter erbte Strout den genauen Blick auf die Details

Manchmal, sagte von Arnim, stecke bei Strout ein ganzes Leben in einem halben Satz und in den Werken der Autorin „ein tiefes Wissen um uns Menschen“. Und dann erzählte von Arnim das, was Strout am Abend vorher selbst dem Publikum erzählt hatte: Dass ihre Mutter ihr beigebracht habe, auf die Details zu achten.

Dem Namensstifter – Lenz-Witwe Ulla besuchte beide Veranstaltungen – wurde, wie sich das gehört, Genüge getan. Strouts Herangehensweise, sich das Leben geduldig anzuschauen, um von ihm berichten zu können, sei auch diejenige von Lenz gewesen, so Gabriele von Arnim, „Lenz war ja ein geduldiger Angler“.

Auch Elizabeth Strout würdigte Lenz und dessen Bücher, in denen „wir erfahren, wie es ist, jemand anderes zu sein“. Interessant war, dass Strout in ihrer Dankesrede einen Aspekt beleuchtete, der ihr vielleicht wichtig ist, weil er auf einen, in den Augen mancher, kritikwürdigen Punkt ihrer Prosa hindeuten könnte. Natürlich, so sagte es die Autorin, sei sie politisch in ihren Büchern, „das Persönliche ist politisch und das Politische persönlich.“

Das Beste, was man über die Lenz-Preisträgerin 2022 sagen kann, ist, dass sie nie langweilt

Am Abend vorher, auf der Bühne im Liebermann-Studio, war Strout bisweilen geradezu kokett, als sie über ihre Figuren und Schreibstrategien sprach. Sie wusste ihre Pointen zu setzen und unterstrich, wie wichtig ihr das Lesepublikum sei. Ein Publikum, über das sie sich keine Illusionen macht, „es ist geduldig, aber nicht sehr, und auch interessiert, aber nicht superinteressiert“. Es gelte also immer, nachhaltiges Interesse zu wecken.

Sie denke viel über ihre Figuren nach, auch wenn Bücher abgeschlossen seien, „anstrengend“ sei das. Im englischen Original ist gerade „Lucy by the Sea“ erschienen, ein weiterer Lucy-Barton-Roman, nur kurz nach „Oh William“, „ich hatte einfach zu viel Material über“. Aus dem neuen Roman las sie einen kleinen Teil, und man glaubt zu wissen, dass die, natürlich, in jederlei Hinsicht überstrapazierten Themen „Corona“ und „Lockdown“ bei ihr gut aufgehoben sind. Das Beste, was man über die Lenz-Preisträgerin 2022 sagen kann, ist, dass sie nie langweilt. Im Liebermann-Studio bedankte sie sich bei allen, „die das Risiko auf sich genommen haben, eine Schriftstellerin kennenzulernen“. Bereut haben wird es keiner.