Hamburg. Ein Kinderpsychologe gerät an einen Patienten, der nicht ganz in dieser Welt ist. Sein Arzt hat aber noch viel größere Probleme. Gruselig!

Der Junge ist geplagt, gestresst, geschunden. Man will oft gar nicht hinschauen. Seine Halluzinationen sind Heimsuchungen. Würmer, schlangenartige Erscheinungen, zerberstende Oberflächen. Dass in Sarah Thorps überintensivem Psychothriller „Before“ permanent eine Bedrohung zu spüren ist, ist die Grundlegierung dieses neuesten seriellen Edelstoffes auf Apple TV+. Darüber legen sich im Wortsinne wahnsinnig viele Schichten des Unbewussten.

Noah (super: Jacobi Jupe), dieser Junge im medizinischen Notstand, steht eines Tages bei Dr. Eli Adler (fast genauso super: Billy Crystal, „Harry und Sally“) vor der Tür. Noahs psychische Kräfte sind enorm: Einmal, da ist er nach einer Gewaltattacke auf einen Mitschüler bereits in der geschlossenen Abteilung einer Klinik, infiziert Noah seltsamerweise die anderen Kinder auf seiner Station mit einem neuen seiner Zusammenbrüche: Als Noah einmal erneut durchdreht, wird mit einem Male quasi der gesamte Raum ohnmächtig.

„Before“ bei Apple TV+: Psychothriller läuft ab dem 25. Oktober

Noah malt Bilder, auf denen ein Farmhaus zu sehen ist. Genau dieses Haus auf dem Land kennt Eli von einer Fotografie bei sich zu Hause. Außerdem hatte seine verstorbene Frau Lynn (Judith Light) denselben Pinselschwung wie Noah, wie der schnell in dem rätselhaften Fall des Waisenjungen Noah, der bei einer Pflegemutter aufwächst, versinkende Eli herausfindet. Ja, als Bedeutungsträger sind Zeichnungen in „Before“ ein echter Handlungstreiber. Das gilt auch für die Albträume Eli Adlers, die sich hinter den Gespinsten Noahs wahrlich nicht verstecken müssen. Als Eli auf einem alten Tape akustische Aufnahmen des im Drogenrausch sterbenden Exfreund Lynns in demselben Panikdelirium entdeckt, in dem sich in der Gegenwart Noah befindet, glaubt er endgültig daran, dass er dem Kind schon einmal begegnet ist.

Billy Crystal in Before
Eli Adler (Billy Crystal) und seine verstorbene Frau Lynn (Judith Light): Szene aus der Serie „Before“. © Apple TV+ | Apple TV+

Im düster-kalten Setting dieses Hyper-Dramas um Schuld, Verdrängung und Trauer entwickelt sich ein Psychokammerspiel, im Verlaufe dessen sich immer mehr die Frage stellt, welche Übertragung (na, kennen Sie noch alle Grundbegriffe der Psychoanalyse?) hier eigentlich genau stattfindet. Zieht Noah Eli in seine Angstwelt, deren Ursprungsereignis Eli unbedingt herausfinden will, oder ist es vielmehr Eli, der Noah in seine problembeladene Existenz als trauernder Witwer zieht? Herr Doktor, lassen Sie das arme Kind in Ruhe – das ist schnell auch die Haltung der Abteilungsleiterin in der Kinderklinik, die Eli misstraut. Bald ist dieser ein Einzelkämpfer, der gegen viele Widerstände, unter anderen den seiner Tochter Barbara (Maria Dizzia), dem jungen Patienten (und sich selbst) helfen will.

„Before“ auf Apple TV+: Taschenspielertricks des Mysteriösen

Die Freud-Begeisterung von Drehbuchautorin Thorp entwickelt sich im Verlaufe dieser zehnteiligen Miniserie zu einem Feuerwerk des Unbewussten. Mit all den Motiven (der verstopfte Abfluss etc.) und Taschenspielertricks der mysteriösen Szenerie und des subtilen Horrors gelingt ihr eine atmosphärisch dichte Erzählung, die am Ende tief in Eli Adlers eigene Kindheit hinabtaucht. Wobei, subtil ist in „Before“ insgesamt natürlich fast gar nichts.

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Was konstantes Unbehagen anlangt, das bei den Betrachtenden mit dem Schicksal eines leidenden Kindes einhergeht, ist die kurze Dauer der einzelnen Folgen, wenn man so will, die richtige Dosis. Das kann sich ja kein Mensch mit ansehen! Der Zehnteiler wird, wie zuletzt auch „Sugar“, im Halbstundenformat dargereicht. Eine Apple-Praxis, die tatsächlich aber programmatische Gründe haben dürfte. Auf diese Weise liefert man den Streaming-Abonnenten länger Nachschub. Gibt es ein Content-Problem bei der amerikanischen Plattform? Dramaturgisch ergibt die kurze Taktung keinen Sinn.

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Schon recht früh ahnt man bei dieser Serie, dass die vielen Twists und immerhin halb erwarteten Wendungen immer mit der Frage einhergehen, welche Projektionen hier tatsächlich am Werk sind. Dass das düstere Psychomärchen „Before“ gar keine Zurückhaltung kennt, macht vielleicht gerade seinen Charme aus.

„Before“ ist ab dem 25. Oktober auf Apple TV+ abrufbar.

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