Hamburg. Als wäre er mit Gulasch groß und stark geworden: Branford Marsalis mit seinem Quartett und seinem „Hungarian Folk Project“ im Großen Saal.
Er saß ganz weit außen dieses Mal, fast schon im Scheinwerferlicht-Abseits. Das hier ist keine dieser Na-so-was-Solo-Nummern, kein „Erst ich und dann der Rest“, sollte das sicher beiläufig signalisieren. Normalerweise steht der Jazz-Saxophonist Branford Marsalis, mit allem, was er so an Überraschungen und Qualität liefern kann, als Bandleader klar im Mittelpunkt. Satt geschmeidiger Ton, lässige Könnerschaft, weniger energisches Sendungsbewusstsein als sein etwas jüngerer Bruder, der Trompeter Wynton, bei dem jede kurze Phrase einer Bigband mühelos zu einer jazzmoralischen Grundsatzdebatte aufblühen kann.
Diesmal aber, in der zweiten Hälfte seines Auftritts im Großen Saal der Elbphilharmonie, waren es sechs Instrumentalisten und eine Sängerin aus Ungarn, teilweise mit nationaltypischen Folklore-Instrumenten ausgestattet, die anders zentral wichtig waren. Das Tárogató (eine charmant näselnde Kreuzung aus Klarinette und Sopransaxophon) war dabei, diverse schlichte Flöten und eine Duda, die magyarische Dudelsack-Cousine, deren Luftvorratssack vor dem ersten Einsatz natürlich erst dekorativ von ihrem Spieler aufgepumpt werden musste – alles nicht unbedingt erwartbares Zubehör bei einem Konzert eines Jazzers aus New Orleans. „We’ll be back for the real show…“, so hatte sich Marsalis deswegen nach dem ersten, arg kurzen, aber sensationell guten Set mit seinem Quartett in die Pause verabschiedet.
Branford Marsalis in der Elbphilharmonie: Marsalis hatte sich für den schwierigeren, anspruchsvolleren Weg entschieden
Ein „Hungarian Folk Project“ sollte es danach geben, vorgeschlagen vor einigen Jahren von einem Konzertsaal in Budapest – das klang auf dem Papier nach Feldforschungs-Vortrag, nach akademisch wertvoller Fleißarbeit, bei der Jazzmusiker womöglich, auf die historischen Vorbilder Bartók und Kodály verweisend, wie mit der Botanisiertrommel durch verstaubte Volkslied-Archive gezogen waren. Um sich genügend Material zusammenzuklauben, über dessen Akkordfolgen sie dann aber, mehr oder weniger wie sonst auch, ausgiebig mit ihrem eigenen Standard-Vokabular hinwegimprovisieren würden. Schlimmstenfalls noch mit Begleitung in bunt bestickten Folklore-Kostümen wie aus der „Csárdásfürstin“ entlaufen. Ein unschönes Aroma von kultureller Aneignung für schnellen Crossover-Applaus hätte das gehabt.
Marsalis jedoch hatte sich mit seinem Quartett für den schwierigeren, anspruchsvolleren Weg entschieden: Er wollte nicht Gast von außen sein, sondern eine Art Integrationsbeauftragter, der diese Musik-Tradition monatelang studiert hatte, um sie dann von innen heraus kennenzulernen und respektvoll zu erweitern.
Branford Marsalis spielte, als wäre er auf einem Dorf mit Gulasch groß und stark geworden
Also saß er dann ganz rechts, vom Tenor- zum Sopransaxophon gewechselt, und spielte so originalgetreu mit, als wäre er nicht im French Quarter mit Gumbo, sondern auf einem Dorf mit Gulasch groß und stark geworden, während der ungarische Teil der elfköpfigen Besetzung ebenso stolz wie virtuos vorführte, wie diese Folklore klingt – oder auch Musik, die in diesem Sinne von Marsalis geschrieben und arrangiert wurde. Eine Sängerin, zwei Geiger, ein Akkordeonist, der Rest Vielfach-Bläser, von hinten durch Marsalis‘ Rhythmusgruppe konsequent auf Trab und unter Dampf gehalten.
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Ein bisschen mehr als so gar keine Erklärung des Gehörten wäre allerdings schön gewesen. Worüber sang Sára Timár mit derart großer Inbrunst auf Ungarisch? Über die gerade frisch eingefahrene Ernte? Das Wetter? Über die Vorfreude der Großmutter auf eine anstehende Heirat, oder war es tagesaktueller Spott über gewisse korrupte Politiker in der Regierung? Man erfuhr es nicht. Aber der Drive der vielschichtigen Rhythmen und die Sogwirkung der Akkordfolgen, die alle Bläser unentwegt im Höchsttempo trillern ließen, das hatte schon einiges. Hier spielte zusammen, wie es sich gehörte. Keine kleine Leistung für ein US-amerikanisches Jazz-Quartett, das sich von Grund auf darauf einzustellen hatte, ohne wieder vom eigenen musikalischen Muskelgedächtnis ins Gewohnte umgeleitet zu werden. Und mehr und mehr steigerten sich eher die Nicht-Jazzer in einen Ehrgeiz, den Gästen aus Übersee ihren Einfallsreichtum vorzuführen.
Das Vorspiel dieser Show war ebenfalls traditionell, nur eben anders: Marsalis, sein wirbelwindiger Pianist Joey Calderazzo, Eric Revis, eine Macht am Bass und die Groove-Maschine Justin Faulkner an den Drums federten elegant durch einen Quartett-Set wie aus dem Blue-Note-Bilderbuch. Zunächst ein energiegeladener Auftakt, dann eine sanft eingeschmuste Tenor-Ballade. Schade nur, dass – wie so oft und einfach nicht aus der anders geeichten Klang-DNA des Großen Saales herauszumischen – die Verstärkung des Flügels mehr nach Eimer klang und weniger nach der Steinway-Charakteristik in diesem Raum, für die es keine Mikros braucht.
Eine soulig angelegte Nummer folgte, bei der Marsalis sich ein kleines Kunststückchen gönnte, das zeigte, wie notenbelesen und vielseitig interessiert er ist: Mittendrin bog er mal eben zu einem Motiv-Zitat aus einer Schostakowitsch-Sinfonie ab, um genauso cool wieder zurückzufinden. Kleiner Insider-Wink, schon klar. Doch auf diesem Niveau ein Beleg für die Scheuklappenlosigkeit dieser Band und ihres Leaders.
CD: Branford Marsalis Quartet „The Secret between the Shadow and the Soul“ (Sony Music / Okeh, CD ca. 8 Euro)
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