Hamburg. Beim Stück „Exit Above“ herrscht Ausnahmezustand auf der Bühne. Es geht um Klimawandel, Lebenshunger und Tanzende, die an Zombies erinnern.

Es gibt Künstlerinnen, die sich tatsächlich mit jedem Werk nahezu neu erfinden. Auf die flämische Choreographin Anne Teresa De Keersmaeker und ihre Kompanie Rosas trifft das zu. Die Grande Dame des zeitgenössischen Tanzes hat sich musikalisch mal Bartók, mal Steve Reich zugewandt. In „Exit Above“, ihrem aktuell auf Kampnagel gastierenden Meisterwerk, entdeckt sie jetzt den Blues.

Der Titel des Abends ist eine Anspielung an eine Regieanweisung in Shakespeares „Sturm“ und ein solcher fegt auch zunächst über die Bühne. Rauschend, bedrohlich, eine riesige Plastikfolie bewegend, darunter sich der Tänzer Solal Mariotte in Gestalt von Walter Benjamins „Engel der Geschichte“ eindrucksvoll um die eigene Achse dreht und am Boden verbiegt, der mit einer Vielzahl farbiger Linien versehen ist. Es herrscht Ausnahmezustand. Das ist spürbar, als die zwölf Tänzerinnen und Tänzer minutenlang ins Publikum starren. Bevor sie das Wandern und Gehen entdecken und ausgiebig auf der Bühne praktizieren.

„Exit Above“: Was für ein befreiender Tanzabend auf Kampnagel

Der Tänzer und Musiker Carlos Garbin steuert feine Gitarrenakkorde bei, während die junge Sängerin Meskerem Mees eindringliche Blueslieder singt, die sie gemeinsam mit Garbin und Jean-Marie Aerts verfasst hat. Deren Texte haben es in sich. Vom hohen Wasser ist die Rede, von Überschwemmungen, später auch sehr pointiert und kraftvoll vom Feuer. Aber weder Musik noch Tanz liefern dazu plakative Illustrationen der Auswirkungen des Klimawandels. Die Texte handeln vom Gehen, vom Vergehen, von der Brüchigkeit der menschlichen Existenz und vom Abschied.

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Die Bewegungen dazu sind zunächst intim, werden ausladender. Es gibt Soli, Duette, Trios und Gruppentableaus, die mal Innigkeit und Zusammenhalt in der Gemeinschaft verbreiten, dann wieder die Tanzenden wie Zombies auftreten lassen. Momente der Stille wechseln mit eruptiven elektronischen Klängen, die sich am Ende in einen kreiselnden Tanz-Rausch steigern. Man sieht herausragend Performende, aber zugleich junge Menschen, die mit ihrem Lebenshunger gegen den Weltuntergang antanzen. Und das hat etwas ungemein Befreiendes.

Anne Teresa De Keersmaeker: „Exit Above“ 25/26.10., jew. 20 Uhr, Kampnagel, Jarrestraße 20-24, Karten unter T. 27 09 49 49; www.kampnagel.de

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