Hamburg. Jette Steckels musikalischer Abend “Der Sturm – nach William Shakespeare“ lässt viele im Publikum ratlos und irritiert zurück.

Kurzfristig entschied sich die Regisseurin für einen Untertitel. Nicht nur „Der Sturm – nach William Shakespeare“ soll der Abend heißen (wobei das kleine „nach“ ja bereits die Schlenker andeutet), sondern nun auch „A Lullaby For Suffering“, also etwa: ein Wiegenlied des Leidens, nach einer Songzeile aus Leonard Cohens „You Want It Darker“. Jette Steckel will am Thalia nicht allein Shakespeare inszenieren, sondern auch (Pop-)Musik, die bei ihr wie eine weitere Hauptfigur daherkommt. Außer Cohen betrifft das vor allem das Album „Let Them Eat Chaos“ der britischen Rapperin, Lyrikerin und Autorin Kate Tempest. Deren Künstlername spiegelt wiederum – Zufall oder nicht? – den Originaltitel des Rahmen-Klassikers: „The Tempest“.

Überall lauern Anspielungen, von denen diese noch die platteste ist, und Jette Steckel begibt sich mit ihrem Ensemble und einer Live-„Band of Spirits“ vor der ersten Reihe mitten hinein in einen bestimmt gut gemeinten Assoziationsrausch. Zu dem lädt Shakespeares widerborstiger „Sturm“ mehr als jedes andere seiner Stücke ein, alles hat irgendwie mit allem zu tun, mit uns, mit der Gegenwart, schon klar. Die Gefahr ist bloß, sich rettungslos zu verheddern.

Shakespeare hatte keine Ahnung, konnte aber erzählen

„Shakespeare hat auch nichts verstanden – aber genau davon konnte er erzählen“, formuliert es der Shakespeare-Übersetzer Frank Günther im Programmheft, eben dies scheint ein Leitgedanke der Inszenierung zu sein. Im besten Fall kommt ein wilder Trip ins Ungewisse dabei heraus, bei dem man seinen Anspruch auf Logik gern fahren lässt. Im schlechtesten Fall ist es der missglückte Versuch. Dieser Abend, der Applaus, aber auch kräftige Buhs einfährt, liegt irgendwo dazwischen.

Der entthronte König Prospero (so zerbrechlich wie zäh und unbeirrt: Barbara Nüsse in einer Hosenrolle) lebt mit seiner Tochter Miranda (Maja Schöne) auf einer einsamen Insel. Das Wesen Caliban (in Neidgelb: André Szymanski) hat er gezähmt, den Luftgeist Ariel (in Zartweiß: Mirco Kreibich) beherrscht er. Bevor er stirbt, will er Miranda auf die Welt vorbereiten, an die sie keine Erinnerung hat. Er entfacht mit Zauberkräften einen Sturm, es landen weitere Schiffbrüchige auf der Insel, darunter Ferdinand, in den Miranda sich verliebt.

Dies ist die Kürzestversion einer inhaltlichen Zusammenfassung. Die ist im „Sturm“ schon ohne weitere Ebenen nicht ganz leicht, da Illusionen einen großen Raum einnehmen. Jette Steckel hat dabei durchaus einen Sinn für coole Poesie: Als Ariel und Caliban zu Leonard Cohen die Rückwand hinaufschreiten, als gäbe es keine Erdanziehung, scheint ein kurzer „Black Rider“-Moment auf. Es bleibt ein Flackern.

Barbara Nüsse als Mini-James-Last

Denn Steckel will noch mehr. Und so führt die Welt, die Prospero erschafft, ins Figurenpanoptikum von
Kate Tempest. Schlaflose Städter verzweifeln an Konsum, Egoismus und Politik. Wie ein wuscheliger, melancholischer Mini-James-Last gibt Barbara Nüsse den Takt an: „Europa ist im Taumel.“ Und so taumeln auch die Spieler. Sie schlängeln durch Florian Lösches knallgelbe Bühne, einen mehrstöckigen, klaustrophobischen Gummizellenaufbau mit Klappen zum Hindurchspringen und atemlosen Auf- und Abklettern.

Ein Setzkasten der Überforderung. Die aber ergreift zunehmend auch den ratlosen Zuschauer. Warum sind einige der zahlreichen englischen Texte übersetzt (übrigens vom Vater der Regisseurin) und einige nicht? Ist das nur nachlässig oder steckt etwas dahinter? Man verstünde das ebenso gern wie die Idee hinter den Sand-Licht-Spielen an der Rampe, die auf einer rückwärtigen Leinwand für sich genommen schöne Muster ergeben. Die Handlungen jedoch wirken willkürlich. Trotz treibender Popmusik und um ihr Leben rappenden Spielern fehlt ausgerechnet die stimmige Dynamik. Immer wieder beschleicht einen das ungute Gefühl, hier und dort sei nicht zu Ende geprobt worden, als fehlte ein gemeinsamer Fokus. Zum Schluss wird die große Drehbühne angeschmissen – auch hier: wieso eigentlich? Es sind zu viele offene Fragen, als dass man sich dem musikalisch berückenden Abend einfach hingeben könnte.

Sturm fügt sich nicht zu einem Ganzen

In der zarten Liebesszene zwischen Ferdinand (Jan Plewka in schanziger Trainingsjacke) und Miranda ist man regelrecht dankbar dafür, den Moment so vorbehaltlos glauben zu können. Hier schwimmen die Schauspieler nicht, hier bleibt das Gefühl nicht nur Behauptung.

„Weil wir in so verrückten Zeiten leben, kann man eine Geschichte nicht erzählen, ohne dass sie sich politisch anfühlt“, hat Kate Tempest in einem Interview gesagt. Übersetzt auf diesen Abend kann man das vielleicht so verstehen: Nur weil ein Liebespaar bei Shakespeare zueinanderfindet, heißt das nicht, dass die Welt nicht trotzdem kurz vorm Kollaps steht. Einverstanden. Es heißt aber auch nicht, dass man ständig agitatorisch den Holzhammer schwingen muss. „We are lost“, schreit Barbara Nüsse. Wir sind verloren – oder haben uns schlicht verfahren. Viel, sehr viel Botschaft steckt in diesem „Sturm“, der sich trotzdem, oder vielmehr: deshalb, nicht zu einem Ganzen fügen mag.

„Der Sturm“ Thalia Theater, Alstertor, wieder am Fr 2.3./Sa 3.3., je 19.30, T. 32 81 44 44