Hamburg. 90 Minuten gebannte Stille bei „Die Maschine oder: Über allen Wipfeln ist Ruh“ im Schauspielhaus – und das Ensemble hatte großen Spaß.
Mal ehrlich: Eine gewisse Skepsis beschleicht einen schon bei der Ankündigung dieses Stückes. Es trägt den Titel „Die Maschine oder: Über allen Gipfeln ist Ruh“, hat also irgendetwas mit Goethe zu tun (der im Programmheft auch als Autor mit erwähnt ist). Es geht aber vor allem um eine Maschine, die die Aufgabe hat, Goethes Achtzeiler zu analysieren.
Eigentlich ist dieses Stück auch gar nicht für eine Bühne gedacht. Vielmehr hatte es der Saarländische Rundfunk als experimentelles Hörspiel in Auftrag gegeben, genauer bei Georges Perec, der seinerzeit zu den vielversprechendsten Autoren Frankreichs zählte und noch vor Goethe ebenfalls als Autor erwähnt ist.
Klingt alles ziemlich kompliziert und wirft die bange Frage auf: Kann so etwas als vollständiger Abend im Schauspielhaus funktionieren? Ja, unbedingt ja! Nämlich dann, wenn jemand wie die mehrfach ausgezeichnete Anita Vulesica die Inszenierung übernimmt. Es war eine kluge Entscheidung, gerade sie für ihr Debüt am Schauspielhaus mit der Inszenierung zu betrauen.
„Die Maschine“ im Schauspielhaus: So spannend haben Sie Goethes Achtzeiler noch nie erlebt
Denn dieser Abend ist unglaublich präzise gearbeitet, sehr kurzweilig und voller Witz. Und es gehört schon einiges dazu, ein volles Haus am Premierenabend mit so einem Thema 90 Minuten lang bei der Stange zu halten und es zeitweilig so gebannt still werden zu lassen, dass nicht der kleinste Mucks zu hören war.
Das geht natürlich auch nur mit einem Ensemble, das ganz offensichtlich Spaß an der Sache hat und mit bemerkenswerter Akkuratesse die Körperarbeit und Choreografien (Mirjam Klebel) umzusetzen versteht. Doch der Reihe nach.
Zu hören sind anfangs nur Vogelgezwitscher und Pferdegetrappel, dann Schritte und das knarzende Öffnen einer Tür (also doch ein Hörspiel?). Auf einer schwarzen Wand wird Goethes Gedicht in Sütterlin aufgeschrieben, dann erst hebt sie sich und gibt den Blick frei auf eine Stahlkonstruktion: Vor eng zusammengeschweißten Rohren befinden sich treppenförmig durchsichtige, mit Metall umrahmte Kästen. In jedem stecken ein Abflussrohr, ein Hebel und ein leuchtend roter Buzzer (Bühne: Henrike Engel). Das Ganze erinnert an die Ausstattung der Serie „Raumpatrouille“ mit dem Raumschiff Orion, die 1968 startete und Kultstatus erreichte.
„Die Maschine“: Entstanden ist ein absurdes, hoch amüsantes Sprachkunstwerk
1968 ist aber auch das Jahr, in dem der Saarländische Rundfunk Perec mit dem Hörspiel beauftragte. Im Rundfunk war man seinerzeit an experimentellen Projekten und der Bearbeitung von technologischer Ästhetik interessiert. Einer wie Georges Perec schien für diese Aufgabe wie geschaffen. Als Dokumentarist für Neurophysiologie arbeitete er bereits mit Computern und war von deren Technologie und Arbeitsweise fasziniert. Zudem beschäftigte er sich mit sprachlichen Strukturen und Sprachelementen.
Für die Auftragsarbeit nahm er Goethes Achtzeiler unter die Lupe und dekonstruierte ihn nach Herzenslust in allen erdenklichen Formen. Entstanden ist ein absurdes, hoch amüsantes Sprachkunstwerk.
Bei dessen Umsetzung im Schauspielhaus wird die Maschine durch roboterhafte Menschen in hierarchischer Reihenfolge dargestellt: Im obersten Kasten sitzt die Kontrolle (Sandra Gerling), es folgen Speicher 1 (Daniel Hoevels), Speicher 2 (Moritz Grove), Speicher 3 (Christoph Jöde) und Speicher 4 (Camille Jammal, zuständig für Musik und Sound).
Die Kontrolle gibt vor: Lochkarten in unmöglicher Weise und Tempo zu falten, zu speichern und danach das Gedicht vorwärts, rückwärts, mit oder ohne Vokale, nur über die Nomen und so weiter aufzusagen und mit dem Buzzer zu speichern.
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Dabei geraten einige der Speicher außer Kontrolle, werden individueller, durchbrechen das Konzept. Eine absolute Kontrolle scheint unmöglich. Schöpfer all dessen ist der im Arbeitsoverall (Kostüme: Janina Brinkmann) gewandete Schöpfer (Yorck Dippe), vielleicht das Alter Ego von Perec. Er sitzt wie ein Tennisschiedsrichter auf einem erhöhten Stuhl in einer Art Wüste. „Wie soll man sich seiner bewusst werden?“, fragt er. „Denken, ordnen, speichern, kontrollieren“, ist vielleicht eine mögliche Antwort, die er sich selbst gibt.
Lässt sich dieser mit stehendem Beifall belohnte Abend angemessen beschreiben? Wohl kaum. Am besten, man geht selbst hin.
„Die Maschine oder: Über allen Gipfeln ist Ruh“ wieder am 27.10., 7.11., 11.11., 16.11., Deutsches Schauspielhaus (U/S Hauptbahnhof), Kirchenallee 39, Karten unter T. 040-248713; www.schauspielhaus.de
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