Hamburg. Der Malersaal lädt zum faszinierenden Gedankenspiel einer Klimarechtsutopie – und landet damit womöglich den nächsten Coup.
Die Welt ist von beklemmender Schönheit. Kreideweiß auf schwarzer Grundierung hat die bildende Künstlerin Julia Oschatz die „Realnische 0“ gestaltet, die zum Spielzeitbeginn dem Malersaal ein neues Aussehen und eine neue inhaltliche Ausrichtung verleiht.
Denn der Begriff bezeichnet in der Ökologie Lebensbedingungen, unter denen eine Art stirbt. Da krallt sich ein Faultier im Treppenhaus an einen Baum. Auf einem Berg aus gestapelten Stühlen blickt den Betrachter der Beutelwolf an.
„Gesetze schreddern“ im Malersaal: faszinierendes Gedankenexperiment einer Klimarechtsutopie
Im Saal setzt sich das Gesamtkunstwerk fort. Zum Auftakt geht es um nichts weniger als das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland. Kevin Rittberger, der vor vielen Jahren schon am Schauspielhaus kluge, utopische Inszenierungen ablieferte, schreibt und inszeniert „Gesetze schreddern. Eine klimagerechte Entsorgung des deutschen Grundgesetzes“.
Dieser Vorgang geschieht dann auch, denn Samuel Weiss wird in der Rolle eines Anwalts zu einem Rechts-Rebellen, der das Grundgesetz auseinanderschneidet und neu zusammenleimt. „Verfassungslyrik“ nennt er das.
Ausgangspunkt ist ihm die Tatsache, dass das Grundgesetz mit seinen nunmehr 75 Jahren auf dem Buckel nicht mehr zeitgemäß ist. Das darin zu findende „Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit“ ist ihm nur noch einen Lacher auf einer fröhlichen Fahrradrunde wert. Denn es fehlen darin die ökologischen Personen, die Natur. Protestieren hilft wenig im Angesicht der Klimakatastrophe, vielleicht hilft ja der Rechtsweg, mag sich auch Rittberger gesagt haben. Und lädt zum faszinierenden Gedankenexperiment einer Klimarechtsutopie.
Sind Grundrechte für die Natur auch Stoff fürs Theater?
Die dahinterstehende Idee ist nicht neu. 2022 hat der Münchner Rechtswissenschaftler Jens Kersten das Werk „Das ökologische Grundgesetz“ verfasst, in dem er fordert, dass das parlamentarische zu einem ökologischen Regierungssystem umgebaut werden solle. Die Natur denkt er darin als Rechtssubjekt, das Grundrechte genießt – und folglich auch Konflikte juristisch austragen kann.
Die Gedanken sind bestechend, aber sind sie auch theatral? Samuel Weiss wechselt gekonnt zwischen einem Juristen, der in einer Vorlesung lässig von Rousseaus Eigentumsbegriff zu Lockes Liberalismus streift, und einem schmierigen Mineralölmanager. Für die handfesteren Szenen ist Ute Hannig zuständig. Als „Wal-Diplomatin“ im Taucherdress mit Schwimmhäuten an den Händen wandelt sie sich von einer Schauspielerin, die so tut, als würde sie die Klicklaute des Pottwals beherrschen und mit ihnen Zwiesprache halten, zu einer wahrhaftigen Expertin und Aktivistin für die Sache der Wale, den Erhalt ihres Lebensraumes und den Respekt vor ihren Versammlungen.
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Tatsächlich gibt es seit einigen Jahren erfolgreiche Versuche, die Sprache der Pottwale mithilfe künstlicher Intelligenz zu entschlüsseln. Doch wenn die Wale Rechtspersonen sind, haben sie auch Eigentum, Schadenersatzansprüche an Reedereien – und werden „stinkend reich“. Hannigs Diplomatin hält von all dem eher wenig, „Ist es überhaupt sinnvoll, die Natur zu ökonomisieren?“, fragt sie und rät dazu, einfach mal mit ihnen in der Tiefe zu meditieren.
„Gesetze schreddern“: Dieses Theater-Experiment macht Spaß
Es verlangt einiges an Konzentration, den Gedankengängen zwischen Jurasprech und Biologie zu folgen. Doch schon früh fängt dieses Theater-Experiment an, Spaß zu machen. Das liegt zum einen an der Dringlichkeit des Themas und der exakten Recherche, die sich in den Raum einer Klima-Fiction hinauswagt. Zum anderen an den beiden tollen Performenden, die die überwiegend ineinandergeschnittenen Monologe bravourös bewältigen.
Trotz aller Theorie und Rechtsphilosophie bleibt es anschauliches Theater. Das wird vor allem dann deutlich, wenn die Szenen abrupt wechseln, Samuel Weiss sich die vielen schönen Details des Bühnenbildes von der Kochstation bis zum Spielautomaten aneignet. Oder wenn Ute Hannig zart über das Wandgemälde eines Wals streicht. Diese erste Ausgabe der „Realnische 0“ begreift auch den Theaterraum neu als Denkraum, der nicht nur anregend gestaltet ist, sondern dabei auch noch auf hohem Niveau unterhält. Gut möglich, dass dem „Theater des Jahres“ damit ein nächster Coup gelingt.
„Gesetze schreddern. Eine klimagerechte Entsorgung des deutschen Grundgesetzes“ weitere Vorstellungen 5.10., 19.30 Uhr, 11.10., 19.30 Uhr, 17.10., 10.30 Uhr, Malersaal im Schauspielhaus, Kirchenallee 39, Karten unter T. 24 87 13; www.schauspielhaus.de