Hamburg. Anna-Sophie Mahler übersetzt den Sound von Dörte Hansens Bestseller am Theater in Hamburg sehr sentimental. Großer Jubel.

Es gibt zu jedem Lebensthema einen deutschen Schlager. Mindestens. Ingwer Feddersen kennt sie alle, seine Mutter Marret hat sie ihm einst zum Einschlafen vorgespielt. Heidi Brühls „Wir wollen niemals auseinandergeh’n“ zum Beispiel, ein Versprechen im Dreivierteltakt, dem das Scheitern der Absicht schon innewohnt. Das ist weniger eine tröstliche als eine ziemlich traurige Angelegenheit, sollte man meinen, aber natürlich ist es in der Premiere der Romanadaption „Mittagsstunde“ nach dem gleichnamigen Bestseller von Dörte Hansen am Thalia Theater auch ein erster Lacher.

„Mein Fundus zum Thema Einsamkeit ist quasi unbegrenzt“, sagt Feddersen, und weil Menschen, die Theaterkarten kaufen, dem Schlager in der Regel ironisch begegnen, wirkt auch dieses Geständnis vor allem komisch. Nicht brachial, eher anrührend komisch; irgendwo auf dem schmalen Grat zwischen ergreifend und lächerlich, mal hierhin abrutschend, mal dorthin.

Feddersen erzählt im Thalia Theater von seinem Leben

Die Regisseurin Anna-Sophie Mahler lässt ihren Feddersen zunächst an der Bühnenrampe erzählen, abseits vom Geschehen, als einen Beobachter seines Lebens, wie das Publikum, dem er davon berichtet. Seinem nordfriesischen Heimatkaff, der schrulligen Mutter, den stoischen Großeltern und ihrer Dorfschenke, der ganzen provinziellen Herkunft hatte er den Rücken zugewandt; nun kehrt er, im Roman wie im Stück, zurück in das fiktive Brinkebüll, um die Großeltern zu pflegen.

Ein „Sabbatjahr“, wie man als Akademiker, der er in Kiel geworden ist, so sagt. Ein „Bummeljahr“, wie „Vadder“ es nennt, der schon nicht wusste, „was da schief gegangen ist“, als der Junge Gymnasiast wurde. Ingwer wird eingeklemmt zwischen diesen Welten, Trost und Selbsterkenntnis findet er nicht im Schlager, sondern bei Neil Young: „Old man, look at my life, I’m a lot like you were...“.

Norddeutsches Dorfleben im Thalia Theater

Eine Einbaukneipe im Zentrum, Büffelschädel über der Holztheke, paar Lichterketten, paar Strohballen. Viel mehr brauchen Mahler und ihre Bühnenbildnerin Katrin Connan nicht, um das norddeutsche Dorfleben zu skizzieren. Enge und Weite in symbiotischer Co-Existenz. Phänomenal das erste Bild, auf dem sich mitten aus dem Stroh der Zigarettenqualm steil nach oben kräuselt. Noch sieht man sie nicht, aber man spürt schon ihre Präsenz: Marret, Ingwers künftige Mutter, liegt dort und raucht, eine eigenwillige junge Frau, ein halbes Kind noch, das der Welt mit Inbrunst den Untergang prophezeit („Am 30. Mai ist der Weltuntergang! Wir leben nicht mehr lang! Wir leben nicht mehr lang!“).

Zumindest für ihre Welt wird sie recht behalten. Die Landvermesser nehmen sich Brinkebüll vor, es wird berichtigt und begradigt, auch die Menschen und ihre Macken fallen dem zum Opfer, was sich zynisch „Flurbereinigung“ nennt. Kalt und rücksichtslos flackern schwarz-weiße Kataster (Video: Georg Lendorff) über die (ja, auch nur vermeintliche) Idylle, fast unmerklich sortieren sich selbst die Strohballen in Reih’ und Glied. Keine Störche mehr, keine Dorfkastanien. Bis das ganze „Schiefe und Beschränkte, das Verwinkelte und Zugewachsene, das Umständliche“, wie es bei Dörte Hansen heißt, weg ist. Und nicht nur in der wuchtigen Kneipeneinrichtung, sondern auch ganz grundsätzlich „die Hässlichkeit des Raumes ihre maximale Sättigung erreicht“ hat.

Das Plattdütsche von „Mittagsstunde“ ist gestrichen

Bestsellerautorin Dörte Hansen zeigte sich glücklich nach der Inszenierung.
Bestsellerautorin Dörte Hansen zeigte sich glücklich nach der Inszenierung. © Unbekannt | Andreas Laible

Wie es Dörte Hansen gelingt, „dieses Stumpfe, das Staubige“ heraufzubeschwören, ohne ihre eigene Herkunft zu verraten, wie weder Verachtung noch Verklärung, sondern Melancholie und Wahrhaftigkeit den Ton setzen, hat „Mittagsstunde“ zu einem herausragenden, präzise beobachteten Heimatroman gemacht, dessen auch generationentypische Motive bei vielen Leserinnen und Lesern Erinnerungen hervorriefen, nicht nur in Norddeutschland.

Anna-Sophie Mahler übersetzt diesen Sound in ihrem Thalia-Debüt geradezu kongenial verschroben für die Bühne, wenn auch sentimentaler als in der literarischen Vorlage. Das Plattdütsche des Romans haben sie und ihr Dramaturg Matthias Günther gestrichen, was einerseits ein bisschen schade ist, andererseits verblüffend gut funktioniert. Die Wortkargheit wird durch musikalische Leitlinien ausgeglichen, mit Hilfe einer erstklassigen Live-Band (darunter die Calexico-Musiker Volker Zander und Martin Wenk, außerdem Tobias Levin und Henning Wandhoff) und eines zwar pointensicheren Ensembles, dem es trotzdem auch in den knalligeren Szenen gelingt, Wehmut und Narben durchscheinen zu lassen.

Höhepunkt der Inszenierung: Björn Meyer

Spektakulärstes Beispiel ist Björn Meyer als Heiko Ketelsen, der auf den ersten Blick in der Provinz „hängengeblieben“ sein mag, dort als „Insel-Begabung für Line-Dance“ aber eine echte Country-Tanztruppe anführt, in Glitzerfransen und Cowboyhut (Kostüme: Pascale Martin), zu „Achy Breaky Heart“ und rotglühenden Büffelschädelaugen. Ein Höhepunkt der Inszenierung, die auch durch solch dankbare Szenen zum Longseller am Thalia werden dürfte.

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Multiinstrumentalist Thomas Niehaus, als Ingwer im ockergelben Strickpulli zugleich schluffige Figur und stringenter Erzähler, schafft die Balance zwischen Distanz und Kapitulation, zärtlichem Spott und brüchiger Sehnsucht. Bernd Grawert, hilflos grantelnder Mann der Marschmusik, und Christiane von Poelnitz als Ingwers Großeltern haben sich mit dem Leben arrangiert, Tilo Werner gibt den geigenden (bisweilen mit dem Bogen zuschlagenden) Dorflehrer.

Cathérine Seifert ist Kraftzentrum des Abends in Hamburg

Kraftzentrum des Abends aber ist Cathérine Seifert als Marret. Mit welcher Unbeirrtheit, welch kindlichem Glanz Seifert diese eigenbrötlerische Frau spielt, ist hinreißend. Eine klarsichtige Verrückte, die den „schönen fremden Mann“ nicht einzuordnen weiß, als barfüßig geerdeter, noch am Mikrofon Schnickerkram vertilgender „Stern von Brinkebüll“ jedoch ergreifend leuchtet.

Der Jubel über all das ist verdient und groß, die Autorin strahlt, immer wieder werden die Schauspielerinnen und Schauspieler auf die Bühne gerufen. Es ist auch die Feier des Publikums, wieder hier sein zu dürfen. Am Ende behält eben doch der simple Schlager recht: „Wir wollen niemals auseinandergeh’n!“

„Mittagsstunde“, Thalia Theater, wieder am 26.6., 20 Uhr, und 27.6., 19 Uhr, Karten unter www.thalia-theater.de