Hamburg. Was Dirigent Alan Gilbert und Bratscher Antoine Tamestit gemeinsam haben, ist beim Konzert des NDR Elbphilharmonie Orchesters zu erleben.
Alan Gilbert, seines Zeichens Chefdirigent des NDR Elbphilharmonie Orchesters, mischt sich gerne mal mit seiner Bratsche unter die Musikerinnen und Musiker und macht mit ihnen Kammermusik. Aber im Großen Saal der Elbphilharmonie und dann noch an der Seite eines Kollegen vom Format des Bratschisten Antoine Tamestit, das ist eine ganz andere Hausnummer.
Zum Auftakt von Tamestits Residenz spielen die beiden mit drei Celli, Kontrabass und Cembalo das 6. Brandenburgische Konzert von Bach. Barocke Kammermusik, meilenweit entfernt vom üblichen Repertoire des Orchesters. Sich mal abseits der Spur zu begeben, tut immer gut. Und so klingt dieser Bach zwar alles andere als historisch informiert, aber er hat Puls und Schwung.
Im Großen Saal der Elbphilharmonie zelebrieren Antoine Tamestit und Alan Gilbert ihre Gemeinsamkeit
Ob es noble Absicht von Gilbert war, Tamestits Qualitäten durch den Vergleich noch zu unterstreichen? Er schlägt sich untadelig. Doch ach, wie berückend gestaltet Tamestit noch das kleinste Motiv, wie samten schimmert der Klang seiner Stradivari! Wo ein Triller bei Gilbert durchklingelt wie ein Telefon, bekommt er bei Tamestit Licht und Schatten, Kontur und Aussage.
Anfangs spürt man den kollektiven Materialwiderstand der tiefen Instrumente
Erstaunlicherweise spielt in der gesamten Konzerthälfte nur eine einzige Frau mit, nämlich die Cellistin Bettina Barbara Bertsch. Die Männerdominanz ist womöglich ein Überbleibsel jener fernen Zeiten, als Frauen sich die Aufnahme in Berufsorchester erst mühsam erkämpfen mussten. Jedenfalls wirft sie ein Licht darauf, dass der Frauenanteil in den Orchestern auch heute noch stark von der Instrumentengruppe abhängt. An dieser ersten Konzerthälfte sind nur sehr wenige Streichinstrumente beteiligt. Auf den Bach folgt die „Kammermusik Nr. 5 für Viola und größeres Kammerorchester“ von Hindemith – und dieses Kammerorchester hat der Komponist ohne Geigen und Bratschen besetzt, dafür mit einer reichen Auswahl an Blasinstrumenten.
Der allererste Einsatz der Solobratsche erinnert an den Beginn des Brandenburgischen Konzerts, aber dann geht es hörbar im 20. Jahrhundert weiter. Ein wenig spürt man anfangs den kollektiven Materialwiderstand der vielen tiefen Instrumente von Kontrabass über Tuba bis Kontrafagott, aber sie grooven sich schnell ein und machen das, was der Werktitel von ihnen verlangt, nämlich Kammermusik mit dem Solisten. Intelligente Musik ist das, lebhaft, vielgestaltig und virtuos.
Als Zugabe spielt Tamestit „Rasendes Zeitmaß. Wild. Tonschönheit ist Nebensache“ von Hindemith
Tamestit scheint ganz aus Ohren zu bestehen, so nah ist er den anderen durch alle Läufe und verschobenen Rhythmen hindurch. Im langsamen Satz singen die Holzbläser ihre Soli, und mit den Celli zusammen erzeugt Tamestit einen vielstimmigen Klang so zart wie ein Spinnenweben. Der schrille Schlusssatz „Variante eines Militärmarsches“ verklingt, vollkommen unsoldatisch, mit einer in sich gekehrten Figur der Bratsche, grundiert von einem fast unhörbaren Basstupfer. Ehrensache, dass Tamestit als Zugabe den berühmten Satz „Rasendes Zeitmaß. Wild. Tonschönheit ist Nebensache“ aus der Bratschen-Solosonate von Hindemith spielt.
Ein Programm ohne ein Werk der Romantik, das ist für ein Sinfonieorchester eine Ansage. Schlank geht es zu nach der Materialschlacht, die Gilbert und die Seinen vergangene Woche mit Schönbergs monumentalen „Gurre-Liedern“ anlässlich der Spielzeiteröffnung geschlagen hatten. Nach der Pause spielen sie Beethovens Erste. Die steht hörbar in der Tradition Mozarts und Haydns und ist genauso empfindlich. Gilbert setzt auf scharfe Kontraste und sprühende Tempi. Schafft Raum für das innige Solo von Oboe und Fagott im ersten Satz, lässt im „Menuetto“ die Stimmungen irrlichtern und den Schlusssatz mit den virtuosen Geigenpassagen funkeln.
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Von der epochenspezifischen rhetorischen Raffinesse, die sich das Orchester unter Thomas Hengelbrock erarbeitet hatte, ist zwar sechs Jahre nach dessen Abschied nicht viel geblieben. Aber Beethoven nimmt das nicht krumm. Er spricht auch so.