Hamburg. Das Trio ist Stuttgarts Stolz, noch vor Daimler. Und das neue Album „Wir waren hier“ Teufelsaustreibung, Gitarrenbrett und erwachsen.

Das Erreichen der Volljährigkeit ist schon eine Weile her? Selbst auf Max Rieger, den seit einiger Zeit als Indie-Produzenten-Star (Drangsal, Casper) kursierenden 31-Jährigen, trifft das zu. Das mag als Rechtfertigung dafür dienen, Riegers neuen Song „Achtzehn“ mit Wohlgefallen zu hören, obwohl man noch um einiges älter ist als der Wahlberliner. „Achtzehn“ ist auf dem neuen Album von Riegers Band Die Nerven, und Rieger singt Folgendes: „Mein Leben eine Wunde/Offen und rot/Gehe blind, bin eine Bombe/Ein Wort, ich geh hoch/Schmale Horizonte/Zwinge die Sonne hinters Meer/Nie mehr war ich so voll/Nie mehr so leer/
Tausend Nadelstiche treiben sich ins Fleisch/Ich hör dich sprechen, aber weiß nicht, was du meinst/Ich will nie mehr achtzehn sein.“

Was heftig nach Adoleszenz-Lyrik klingt, muss dennoch nie verkehrt sein, und „achtzehn“ ist daran tatsächlich gar nichts; auch alte Menschen haben Existenzkummer. „Wir waren hier“ heißt das nächste formidable Album des einst in Stuttgart (oder Esslingen?) gegründeten Trios, dessen „Deutschland muss in Flammen stehen“-Radau vor zwei Jahren eine Offenbarung war und lauter ist als die S-Klasse von Mercedes. Der Nachfolger triumphiert einmal mehr mit den dunklen Texten Riegers und Gitarrenwänden, mit Trommelwirbel, schnellen Post-Punk-Rotzereien und verhältnismäßig komplexen Songstrukturen. Sie zementieren den Status von Die Nerven als Deutschlands beste Rockband. Eh klar.

Neues Album von Die Nerven: „Nach uns kommt die Sintflut, wir fressen vorher alles auf“

Mit dem Titelstück gibt es hier einen Fridays-for-Future-Song, überwiegend in gebührender unkonkreter Distanz, aber auch mit folgenden Lines: „Wir waren hier/Wir waren hier/Keine Pflanze, kein Tier war so wertvoll wie wir/Nach uns kommt die Sintflut/Wir fressen vorher alles auf.“ Als sich auf den Zeitgeist zurasendes Gitarrenlärm-Inferno sind die neuen Stücke voller Angst und Zorn. „Warum hab ich Angst, aber du nicht“ heißt es in „Das Glas zerbricht und ich gleich mit.“ Einem Song („Das Meer färbt sich rot/Hauptsache uns geht es gut/Ich kann es nicht mehr hören/Bombenhagel, Tod/Ich stehe an Deck/Nehm noch einen Sekt/Ertränke meine Angst/Ich trink sie einfach weg/Wir nehmen die letzten Stunden, fette Jahre gerne mit“), der die Gleichzeitigkeit von Normalität und Krieg thematisiert, aber das Unbehagen nicht wegwirbeln kann.

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„Disruption“ ist ein Lied über eine Trennung, das einen für Die-Nerven-Song typischen dramatischen Aufbau hat, wie überhaupt Dramatik und bisweilen Pathos, warum auch nicht, Rieger und seinen beiden Mitstreitern Kevin Kuhn (Schlagzeug) und Julian Knoth (Bass/Gesang) nie fremd gewesen sind. „Wir waren hier“ hat den triftigsten Rocksound der Gegenwart und vibriert vor Energie. Das Album ist ein nervöses, knallendes Statement, und es sind nicht die schlechten Momente, wenn Rieger melancholisch den Strand längslatscht („Wie man es nennt“, „Bis ans Meer“) und die Wellen anbrüllt.

Cover
Das Cover von „Wir waren hier“, dem neuen Album der Band Die Nerven. © www.checkyourhead.de | www.checkyourhead.de

Geschrieben wurden die neuen Stücke innerhalb von vier Wochen in einem ehemaligen Sterne-Restaurant am Stuttgarter Schlossgarten. „Mit Blick auf die Oper“, heißt es im Waschzettel der Plattenfirma, es war also visuell manches geboten. Opulenz in den Gemarkungen eines Rocksongs kann auch ein schepperndes Stop-and-go wie bei „Als ich davonlief“ sein. Man muss die Musik dieser Band gar nicht als leere Seelenlandschaft begreifen, im Gegenteil. Zeilen wie „Auf der Flucht vor der Wirklichkeit ist mir kein Weg zu weit“ sind in Wirklichkeit schwerromantisch. Eskapismus und die Austreibung des Teufels Nihilismus, bei Die Nerven macht das Spaß. Reine Kartharsis.

Am 26. November machen Die Nerven auf ihrer „Auf der Flucht vor der Wirklichkeit“-Tour in der Hamburger Fabrik Station.

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