Hamburg. Das Imperial Theater bringt zum 30. Geburtstag eine vielschichtige Inszenierung des berühmten Stoffs. Er passt gut zum Rotlicht.
Das Imperial Theater feiert seinen 30. Geburstag: 1994 gründete Frank Thannhäuser die Bühne in einem ehemaligen Pornokino, mit einem Programm, das vor allem auf Musicals setzte und das neun Jahre später einen inhaltlichen Schwenk hin zu Kriminalstücken machte. Mittlerweile hat sich Thannhäuser nicht zuletzt mit Edgar-Wallace-Adaptionen wie „Der Hexer“ (2005), „Die toten Augen von London“ (2015) und „Der Frosch mit der Maske“ (2018) ein treues Publikum erspielt.
Zum Jubiläum aber gibt es keinen Wallace, sondern Weltliteratur. Dass das Haus aktuell Robert Louis Stevensons „Jekyll und Hyde“ zeigt, ist also gleichzeitig überraschend wie folgerichtig. Überraschend, weil: Die auf den Effekt hin geschriebenen Thriller von Wallace funktionieren vor allem über Schocks und Blut, was durch die humorvollen Elemente der Inszenierungen eine reizvolle Achterbahnfahrt der Gefühle beim Zuschauer auslöst. Theater als Überwältigung ist das, mit Nähe zum Schaugewerbe und so perfekt auf die Reeperbahn passend. Es wäre naheliegend gewesen, diese Spur zum Dreißigsten weiterzuverfolgen. Folgerichtig ist die Entscheidung für „Jekyll und Hyde“ aber, weil der 1866 als Novelle veröffentlichte und sehr schnell für die Bühne adaptierte Stoff ebenfalls auf dem Kiez seine Entsprechung findet.
„Jekyll & Hyde“ im Imperial Theater Hamburg: Sehnsucht nach Gesetzlosigkeit
Stevenson beschreibt den im viktorianischen London praktizierenden Arzt Henry Jekyll: ein Mitglied der Oberschicht, wohlhabend, gutherzig, in seinem Beruf hochprofessionell, vielleicht ein bisschen überambitioniert. In seiner Freizeit forscht Jekyll an einem Mittel, um gute und böse Charaktereigenschaften voneinander zu trennen. Dann aber probiert er das Medikament selbst aus – und verwandelt sich zeitweilig in Mr. Hyde, der all das verkörpert, was Jekyll sich selbst nicht eingesteht, Triebhaftigkeit, Impulsivität, Gewalt.
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Was auch ein Hinweis darauf ist, weswegen Menschen, die überhaupt keinen Hang zum Verbrechen haben, Krimis lesen: Da wird ein Bedürfnis befriedigt, das im Alltag unterdrückt wird, die Sehnsucht nach Gesetzlosigkeit, nach Regelbruch. „Endlich frei!“, brüllt Hyde, als ihn das Experiment zum ersten Mal aus Jekylls Körper befreit hat. Und entsprechend passt auch, dass dieses Stück auf dem Kiez gezeigt wird: weil durch das Umfeld zwischen Bordellen, Sexshops und Vergnügungskneipen ein Publikum aus den bürgerlichen Vierteln kurz und gefahrlos in die Halbwelt hineinschnuppern kann.
30 Jahre Imperial Theater auf der Reeperbahn: Mit Überbiss wird aus Jekyll der fiese Hyde
Zumal die Inszenierung von Theaterchef Thannhäuser die Janusköpfigkeit seiner Hauptfigur betont. Christian Richard Bauer zeigt Jekyll als netten Schwiegersohntyp, aber die Verwandlung in Hyde passiert hier nur oberflächlich, mittels Überbiss und verwuschelter Frisur – tatsächlich sind Jekyll und Hyde von vornherein ein und dieselbe Figur, der Schritt zum Verbrecher ist ein ganz kleiner. Dieser Arzt mag der Oberschicht entstammen, aber nebenbei behandelt er Bedürftige kostenlos: Der weiß schon, wie es auf der anderen Seite der starren Gesellschaftsgrenzen aussieht. Und der weiß auch, dass diese dunkle Seite ihren Reiz hat. Als er das Straßenmädchen Ivy (Eileen Weidel) aus Bedrängnis rettet und ihre Wunden versorgt, bedankt sich Ivy mit einem Kuss. Und als sein Freund Archie (Patrick Michel) das Geschehen irritiert kommentiert, fragt Jekyll provokant: „Und wenn es mir gefallen hätte?“ Hyde steckt immer schon in dieser Figur, es braucht gar keine Wundermittel, um den bösen Zwilling zum Leben zu erwecken.
„Jekyll & Hyde“ auf der Reeperbahn: Drastisch ausgespielte Gewaltszenen
Diesen sehr nachvollziehbar gestalteten Grenzgängerpassagen entgegen stehen die Szenen in der Oberschicht, die Thannhäuser als Konversationskomödie gestaltet hat, mit knochigen Würdenträgern zwischen Brandy, Zigarre und Billardspiel. Der bei Stevenson nur angedeutete romantische Strang zwischen Jekyll und seiner Verlobten Agnes (Jenny Klippel) gewinnt so an Bedeutung, sorgt aber auch für eine leichte Unwucht in der Inszenierung: Gespielt wird hier mit Wortwitz und Gespür für den Humor des Ungesagten, insbesondere Till Huster als künftiger Schwiegervater schafft es, Irritationen mit einem winzigen Verziehen der Mundwinkel anzudeuten, und Janis Zaurins ist ein hübsch stocksteifer Anwalt Utterson, der als Erzähler die Handlungsebenen zusammenbringt. Aber solche fröhlichen Momente sind ein Widerspruch zu den drastisch ausgespielten Gewaltszenen, die dieser Stoff ebenfalls beinhaltet.
Die Beziehung zwischen Hyde und Ivy etwa ist eine Missbrauchsbeziehung, und Ivys Tod ist ein Femizid – so etwas ist eigentlich nicht zum Lachen. Aber vielleicht ist genau das der große Gewinn einer Bühnenkunst, wie sie am Imperial Theater gepflegt wird? Einer Kunst, die einen in den Abgrund schauen lässt. Und die einen dann, nach einem Moment des Grauens, wieder auffängt, in der Harmonie des Lachens. Alles nicht so schlimm, oder? Aber Vorsicht: Ein Happy End gibt es nicht, in dieser Jubiläumsinszenierung, die es einem weniger leicht macht, als man zunächst glaubt.
„Jekyll und Hyde“ : bis 28. Februar 2025, Donnerstag bis Sonnabend, 20 Uhr, ab November Sonnabend auch um 16 Uhr, Imperial Theater, Reeperbahn 5, Tickets unter 313114, www.imperial-theater.de