Wacken. In der 33. Ausgabe wirkt das Festival manchmal wie sein eigenes Klischee – und dann auch wieder wie das Gegenteil davon.
Das Denken von Bertolt Brecht funktionierte dialektisch. Zu jeder These bildet man eine Antithese, und am Ende lässt sich so die Gesellschaft analysieren. Das Wacken Open Air 2024 ist in diesem Sinne Dialektik als Rockfestival: Zu jeder These findet sich auf dem Gelände auch gleich die Antithese.
Manchmal nämlich wirkt Wacken in seiner 33. Ausgabe wie das eigene Klischee. Dann geht man über die Äcker auf dem schleswig-holsteinischen Land und sieht genau, was man zu sehen erwartet: Die braven Steuerberatertypen (nichts gegen Steuerberater!), die sich einmal im Jahr die Haare wachsen lassen, um für ein paar Tage aus ihrem ultrabürgerlichen Leben auszubrechen, Wacken als Karneval, der eine Entlastungsfunktion für den stressigen Alltag bedeutet. Aber zwei Schritte weiter begegnet man dann dem einsamen Dorfjugendlichen, für den die Aggressivität des Metal tatsächlich die Welt bedeutet. These und Antithese, beides darf in Wacken gleichberechtigt nebeneinanderstehen.
Scorpions – Verrat an den Wacken-Idealen
Was nicht heißt, dass es immer konfliktfrei zugeht. Es gibt im Metal eine Tendenz zum Rechthabertum und zum Dogmatismus. Als vor einem Jahr bekannt gegeben wurde, dass Headliner 2024 die hannoverschen Altrocker Scorpions sein würden, schäumten Fans im Netz: Die Verpflichtung der weichgespülten Chartsband sei ein Verrat an den Wacken-Idealen. Andere betonten die vor allem im Frühwerk begründeten Verdienste des Quintetts für das Rockgenre in Deutschland.
Aber wenn man sich nach dem Auftritt am Donnerstagabend im Publikum umhört, erfährt man, dass die Show zwar ein wenig hüftsteif gewesen sei, aber, na ja, Sänger Klaus Meine ist halt schon 76. Dieses Festival ist eben auch immer geprägt von starken Positionen, die hinterher relativiert werden. Unterschiede aushalten: Wacken ist eine Übung in Diversität.
Zumal es immer Alternativen gibt. Meist spielen mehrere Bands gleichzeitig (und dass sich das akustisch nicht in die Quere kommt, zeigt, wie ausgeklügelt das Raumkonzept des Festivals mittlerweile ist), wer mit dem Punk-Pop-Crossover des kalifornischen Quintetts Zebrahead nichts anfangen kann, der darf gerne ein paar Bühnen weitergehen, zu den düsteren, schweren Klängen von SOiL, die tief in die Abgründe ihrer 2001er-LP „Scars“ sinken.
Blöde nur, wenn man eigentlich beides hören möchte – die Entfernungen auf dem Gelände sind so groß, dass sich nicht so einfach von der „Louder Stage“ zur „Headbanger’s Stage“ wechseln lässt. Man kann nicht alles haben, das ist auch eine Lehre, die man vom Festivalbesuch mitnimmt.
Manches klingt, als seien ABBA als Hardrocker wiedergeboren
Dafür sind immer wieder Entdeckungen möglich. Das Metal-Genre hat sich schon vor Jahren in unzählige Subgenres aufgesplittet, und wer mit halbwegs offenem Ohr zwischen den Bühnen flaniert, lernt Klänge kennen, die man so nicht erwartet hätte. Zum Beispiel die Powermetaller Beast in Black, deren Sänger Yannis Papadopoulos mit seinen großen Gesten zwar nicht wirklich sympathisch rüberkommt, die musikalisch aber klingen, als ob ABBA als Hardrocker wiedergeboren wären. Will sagen: wuchtig, traditionsbewusst, und mit unwiderstehlichem Gespür für Pop-Hooklines.
Das Gesamtprogramm überwindet also konsequent Grenzen. Die Bands selbst machen das seltener, eine Ausnahme: das multinationale Quartett Ankor mit Basis im katalonischen Tarragona. Hardcore, Elektronik, Pop gehen hier eine Verbindung ein, manchmal sogar innerhalb eines einzigen Songs, und zwischendurch leitet Sängerin Jessie Williams mit unbekümmertem Charme einen wüsten Circle Pit an, egal ob das nun passt oder nicht.
Oder Spiritbox, deren Sängerin Courtney LaPlante mühelos zwischen sphärischen Dreampop-Passagen und wildem Screaming wechselt. Dogmatismus sieht anders aus, aber wer unbedingt die reine Lehre braucht, der darf sich später auf den emotionalen Darkrock von Baroness freuen.
Wacken – vollkommene Durchkommerzialisierung?
Und, nein, es ist trotzdem nicht alles eitel Sonnenschein und Toleranz in Wacken. Der Ruf, dass das Publikum hier besonders friedlich sei, wird zwar erfüllt, aber auch das ist ein Klischee, bei dem die Antithese ebenso da ist: Den Stiernacken im Böhse-Onkelz-Shirt findet man ebenso wie die Junggesellengruppe, die vor allem Spaß will und der es egal ist, ob sie sich am Ballermann oder auf Wacken volllaufen lässt. Die geht dann zu Knorkator, Metal-Comedy, warum nicht? Hat nur nichts mit Wacken zu tun, trotz regelmäßiger Festivalpräsenz.
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Wobei das schon die Frage ist: Was hat das mit Wacken zu tun? Als jüngst bekannt wurde, dass der US-Investor KKR die Mehrheit am Festival übernehmen werde, wurde das als Anfang vom Ende interpretiert, als vollkommene Durchkommerzialisierung eines Projekts, das einerseits auf Gemeinschaft setzt, andererseits auf echte Liebe zur Musik. Die Antithese dazu ist freilich, dass Wacken schon seit Jahren kein reines Liebhaberding mehr ist, bei dem eine Handvoll Bands auf einem Acker rocken.
Wacken – seltsam widersprüchlicher Mikrokosmos
Die Klage über die Kommerzialisierung ist alt, und wer sich darüber aufregt, dass am Freitagabend die US-Mainstreamrocker Korn oder der ehemalige Kiss-Bassist Gene Simmons spielen, der übersieht, dass hier immer schon Chartsbands präsent waren. Die Festivalgründer Thomas Jensen und Holger Hübner sind gute Geschäftsleute, da stehen sie den Investoren von KKR in nichts nach. Aber Jensen und Hübner sind Geschäftsleute, und gleichzeitig sind sie auch Fans.
These und Antithese: Wacken ist Anlass, über Kommerz und Kapitalismus zu schimpfen, aber am Ende geht es darum, was auf und vor der Bühne passiert. Wacken ist Anlass, den eigenen Geschmack zu schärfen, aber am Ende geht es darum, die Ohren offen zu halten für Sounds jenseits des engen Hörspektrums. Wacken ist vielschichtiger Diskurs, und Wacken ist großer Spaß. Wacken ist laut und leise, ist schnell und langsam, ist Kopf und Bauch. Wacken ist Dialektik, und wenn man das mal verstanden hat, dann ist man in diesem seltsamen, widersprüchlichen Mikrokosmos angekommen.