Hamburg. Die etwas andere Vermessung der Welt: Der „Atlas der imaginären Orte“ verzeichnet Städte, Regionen und Staaten, als gäbe es sie wirklich.




An Gleis 9 ¾ einsteigen und eine Zugfahrt, schon wäre man da: in Hogwarts. Sich rote Schuhe anziehen, dreimal die Absätze zusammenschlagen, und man wäre aus dem Reich des Zauberers von Oz wieder zurück, zwischen den endlosen Feldern von Midwestern-Kansas. Das breitbeinig newyorkige Metropolis von Superman, das deutlich finsterere Gotham von Batman und dem Joker, das klassische, von Erpeln, Mäusen und Hunden bevölkerte Entenhausen – drei fantastische Metropolen, na sicher doch. Aber jeweils mit dem Schönheitsfehlerchen versehen, dass einem weder Google Maps noch die allwissenden Server von Apple sagen können, wo diese Orte nun wirklich liegen. Wo sie liegen sollen, diese literaturgeografisch eindeutigen Antworten gibt nun der „Atlas der imaginären Orte“ für nicht weniger als rund 5000 Adressen.

Eine reizende Idee, eine Arbeit, die sich nur ganz leicht spinnerte Briten gemacht haben können. Matt Brown und Rhys B. Davies haben den gesamten Globus, Kontinent für Kontinent neu durchsortiert. Sie haben Ländernamen passgenau eingetragen und so den vielen Orten, die es nur auf Buchseiten, Serienstaffeln oder Kinoleinwänden gab, einen Platz in der Wirklichkeit gegeben. In einem Paralleluniversum, genauer gesagt, das allerdings sehr große Ähnlichkeit mit der Normversion hat.

Auch der Wilde Westen der USA (hier ein Ausschnitt) ist nicht mehr, wie man ihn aus der Wirklichkeit kennt. Er heißt nun „Die veränderten Staaten“
Auch der Wilde Westen der USA (hier ein Ausschnitt) ist nicht mehr, wie man ihn aus der Wirklichkeit kennt. Er heißt nun „Die veränderten Staaten“ © Groh Verlag © Mike Hall | Groh Verlag © Mike Hall

Wo genau liegt denn eigentlich dieses Hogwarts?

Literaturklassiker wie George Eliots Middlemarch sind ebenso dabei wie aktuelle Popkultur-Phänomene aus Serien und Filmen. Das unbeugsame gallische Dorf aus den „Asterix“-Abenteuern ist nur einige Hinkelsteinwürfe entfernt vom Weltkriegsschlachtfeld aus Steven Spielbergs „Saving Private Ryan“. Und das Felsental von Fred Feuerstein? Liegt in Arizona, in der Nähe des Grand Canyon.

Anlauf genommen haben die beiden 2018 mit ihrem „Fake-Britain“-Landkarten-Projekt und 1000 Orten, gefolgt von einem „Unreal London“. Nach hartnäckigem Grübeln haben sie Hogwarts (eigentlich ja unauffindbar wegen Zauberei) verortet, in den ostschottischen Cairngorms Mountains. Entenhausen liegt übrigens ganz eindeutig in Calisota, einer Art Nordkalifornien. Metropolis an der Küste von Delaware und Gotham City in New Jersey.

Das Springfield der Simpsons ist wie Schrödingers Katze

Brown und Davies haben die Welt in 18 Regionen unterteilt und neben den dazugehörigen Karten jeweils rund 20 Schauplätze detaillierter erklärt. Dazu kommen Spezialspezialfälle wie jene Frage, die sich alle Fans der Simpsons seit mittlerweile 34 Staffeln verzweifelt fragen: „Wo liegt Springfield?“ Die Antwort Der Weltvermesser darauf ist so salomonisch wie genial: „Springfield ist Musterstadt, USA. Wie Schrödingers Katze kann es – quantenphysisch und geografisch – an mehreren Orten gleichzeitig existieren.“ Ob außerdem dort, wie von Ex-Präsident Trump neulich behauptet, Hunde und Katzen den Einwohnern von Migranten weggegessen werden? Das wäre ein Fall für einen Fantasy-Roman.

Nicht jeder Fanwunsch wird erfüllt: Das Westeros aus dem „Game of Thrones“-Epos ist komplett erfunden und bleibt deswegen wie auch Tolkiens Mittelerde draußen vor aus diesem Atlas. Ebenso Orte, deren Namen real seien, die aber fiktionalisierte Eigenschaften erhalten hätten, erklären die Autoren ihr Vorgehen. Das „liegen sollen“ ist so ziemlich eine der wichtigsten Maßeinheiten für Entfernungen auf diesen Karten. Und „Imaginiert“ ist etwas anderes als „fiktiv“.

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Herzstück dieser Fleißarbeit sind neben den Erläuterungen, was warum wo zu finden wäre, gäbe es diesen Ort, die liebevoll ausgearbeiteten Landkarten. Auf ihnen ist mitsamt zielführenden Koordinaten-Angaben im Kleingedruckten alles verzeichnet, bis hinab zu einzelnen ikonischen Gebäuden: das Bates Motel aus Hitchocks „Psycho“ hat einen eigenen Vermerk. Schade nur, dass die Maße des Buches nicht den Dimensionen der Hingabe an diese Aufgabe entsprechen. Dieser Atlas hat sich einen Fleißstern und hätte eine mindestens küchentischgroße Ausgabe verdient.

Matt Brown, Rhys B. Davies „Atlas der imaginären Orte: Von Atlantis bis Gotham City“ (übersetzt von Christiane Manz, Groh Verlag, 168 Seiten, 34 Euro)