Hamburg. Der Schriftsteller hat mit „20. Juli“ ein brisantes Stück über Rechtsextremismus geschrieben. Fragen an den Bestsellerautor („Der Vorleser“).
Der Mann ist weltgewandt, wohnt in New York und Berlin. Aus der Bundeshauptstadt ist Bernhard Schlink an diesem Morgen nach Hamburg gekommen, am Abend fliegt er weiter nach Zürich. Dort sitzt sein Verlag Diogenes. Schlink ist Schriftsteller, ein mehrmals international ausgezeichneter, seit seinem 2008 mit Oscar-Preisträgerin Kate Winslet und dem jungen David Kross aus Bargteheide verfilmten Roman „Der Vorleser“ ein weltbekannter. Zuletzt erschienen von Schlink die Romane „Die Enkelin“ (2021) und „Das späte Leben“ (2023).
In seinem ersten Leben war Schlink (Jahrgang 1944) Jurist und Hochschullehrer. Jetzt sitzt der hagere Mann, auch SPD-Mitglied, vor dem Saal der Kammerspiele. Hier hat am 23. August Schlinks erstes Theaterstück Premiere, „20. Juli“. Es geht nicht nur um das Attentat auf Hitler an jenem Sommertag des Jahres 1944. Im Zentrum stehen fünf heutige Abiturientinnen und Abiturienten und ihr Geschichtslehrer, dazu kommt der Spitzenpolitiker einer rechtsextremen Partei, die jüngst bei einer Landtagswahl im Osten 37 Prozent geholt hat. Vor unserem Interview hat sich Schlink bewusst Zeit für das Ensemble der Schule für Schauspiel Hamburg und Regisseur Franz-Joseph Dieken genommen. Die Inspiration zum Stück bekam der Autor in der Berliner S-Bahn, wird er später erzählen.
Kammerspiele-Premiere in Hamburg: Wie soll man Rechtsradikale bekämpfen?
Hamburger Abendblatt: Herr Schlink, wenn man den Inhalt Ihres bereits 2021 verfassten Stücks jetzt liest, vor den drei Wahlen im Osten, fragt man sich: Hat der Autor prophetische Gaben? Die von Ihnen so benannte rechtsextreme Partei „Deutsche Aktion“ erhält bei einer Landtagswahl 37 Prozent. Am 1. September könnte bei den Wahlen in Sachsen und Thüringen sowie drei Wochen später in Brandenburg die AfD de facto derart viele Stimmen bekommen. War es beim Schreiben Dystopie oder reale Erwartung?
Bernhard Schlink: Ich wusste, als ich das Stück schrieb, dass es mit der AfD noch keineswegs zu Ende ist. Deutschland wächst nicht einfach so zusammen, dass der Osten wie der Westen wird. Der Westen gleicht sich auch dem Osten an, denken Sie an die Erfolge der AfD im Westen, und der Osten behält seinen Eigensinn. Mehr als 30 Prozent für die AfD im Osten habe ich mir schon damals gut vorstellen können.
Angesichts der sich entwickelnden politischen Verhältnisse!?
Ja. Wir holen in gewisser Weise nach, was andere Länder vorgeführt haben. Die Rechten haben bei uns als Dumpfbacken angefangen, dann wurden sie geschmeidiger, passten sich an modische Trends an, wurden medial versierter, und inzwischen haben wir sogar ein rechts-intellektuelles Milieu. Das ist eine Entwicklung, die Sie zumal in Frankreich und
Italien beobachten konnten. Irgendwann kam in Frankreich wie in Italien eine charismatische junge Gestalt dazu, die die Sache noch mal weiterbrachte – zum Glück ist bei uns niemand zu sehen, dem das zuzutrauen wäre.
Bernhard Schlink: Mit dem Ensemble ausführlich diskutiert
So einer, wie es der vom Boulevard hofierte Schwiegermutter-Liebling Sebastian Kurz in Österreich als Kanzler einer ÖVP/FPÖ-Koalition eine Zeit lang war?
Ich denke an Politiker der äußersten Rechten, an Jordan Bardella in Frankreich, an Giorgia Meloni in Italien. Vielleicht hätte Sebastian Kurz das Zeug dazu gehabt, aber er war ÖVP und nicht FPÖ.
So einen gibt es in Deutschland nicht?
So einer fehlt in Deutschland noch, und ich hoffe, dass es noch lange so bleibt.
Höcke ist es nicht?
Gewiss nicht, und Weidel und Chrupalla sind es auch nicht. Aber ich denke, auch das wird irgendwann kommen – für einen jungen, talentierten, ehrgeizigen, skrupellosen Opportunisten ist die Rolle einfach zu verlockend.
Wie wichtig sind denn in Ihrem Stück die Rollen der Schüler und natürlich die des Lehrers? Sind diese gleichrangig, auch unter dem Aspekt, dass Sie „20. Juli“ in Heidelberg schon mal auf der Bühne gesehen haben?
Alle Rollen sind wichtig. Und bei allen geht es nicht um eindeutige Charaktere und eindeutige Agenden; bei allen sind verschiedene Charakterzüge, Überzeugungen und Motive miteinander verschlungen. Darüber habe ich mit dem Hamburger Ensemble gesprochen, und ich freue mich, dass die jungen Schauspieler und Schauspielerinnen das verstehen.
Schlink: „Verantwortung, Verstrickung, Schuld – ich suche sie mir nicht als Themen aus“
Das Thema Verantwortung und Schuld ist häufig Gegenstand Ihrer Romane – auch Ihres Theaterstücks?
Verantwortung, Verstrickung, Schuld – ich suche sie mir nicht als Themen aus. Sie finden sich in den Geschichten, die ich interessant genug finde, erzählt zu werden, oder sie finden sich nicht – genauer: Die Leser und Leserinnen finden sie oder finden sie nicht und beim Stück die Zuschauer und Zuschauerinnen.
In Ihrem „20. Juli“ beratschlagen die Schüler, ob man heute nicht früher handeln müsse, als Stauffenberg und seine Kameraden 1944, also den neuen Anführer der Rechtsextremen umbringen solle. Ein Plädoyer für Tyrannenmord?
„20. Juli“ ist kein Stück über den Tyrannenmord. Es ist ein Stück über die Frage, was und wie wir aus der Geschichte lernen können. Das war auch der Einstieg in die Entstehung des Stücks. Ich saß in Berlin in der S-Bahn, die Sitzgruppen sind offen, man kriegt mit, was hinter einem gesprochen wird. Hinter mir saßen vier Schüler, ich vermute Abiturienten, mit denen ihr engagierter, moralischer Lehrer über aufrechten Gang, Zivilcourage und Widerstand, dem Widerstand der Männer um Stauffenberg und anderem Widerstand im Dritten Reich, gesprochen und ihnen das als Vorbild dargestellt hat. Die Schüler fragten sich: Was sollen wir eigentlich mit dem Vorbild anfangen?
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All das haben die in der S-Bahn erörtert, und Sie haben es mitgehört?
Sie haben darüber gesprochen, nachdem der Lehrer offenbar die Antwort schuldig geblieben war. Ich fand es eine gute Frage: Was können, was sollen die jungen Leute von der Geschichte des Dritten Reichs, von Stauffenberg und den Männern und Frauen des deutschen Widerstands lernen?
Darauf soll Ihr Stück Antworten geben, als eine Art Parabel?
Es gibt keine Antworten. Das Stück handelt von der Suche nach Antworten.
Sie haben „20. Juli“ schon im Jahr 2021 fertiggestellt.
Es wurde seitdem in Heidelberg am Karlstor Theater von einer Theatergruppe junger Lehrer und Lehrerinnen uraufgeführt. Ich habe die Entstehung begleitet und die Premiere erlebt. Die Aufführung war gut, sie war ein Erfolg, das Stück wurde noch über die vorgesehenen Aufführungen hinaus mehrmals gespielt
„20. Juli“ Premiere Fr 23./Sa 24.8., auch 29./30.9., jew. 19.30, Kammerspiele (U Hallerstraße), Hartungstr 9–11, Karten zu 21,- bis 28,- unter T. 040/413 34 40; www.hamburger-kammerspiele.de