Hamburg. John Neumeier hat das Birmingham Royal Ballet nach Hamburg eingeladen. Ein überraschendes Gastspiel – mit teils verblüffendem Publikum.
London ist die Hauptstadt und ohnehin der Nabel der Welt. Aus Liverpool kommen die Beatles. In Manchester wurde der Kapitalismus erfunden und die Arbeiterbewegung gleich mit. Aber was kann eigentlich Birmingham? Nun ja: Die mit gut einer Million Einwohner zweitgrößte Stadt des Vereinigten Königreichs beherbergt mit dem Birmingham Royal Ballet eine der weltweit angesehensten klassischen Ballettkompanien. Und: Ende der Sechziger wurde hier der Heavy Metal erfunden, mit Bands wie Judas Priest, Magnum und vor allem Black Sabbath.
Voriges Jahr kam Royal-Ballet-Direktor Carlos Acosta auf die Idee, diese beiden kulturellen Errungenschaften seiner Wahlheimat zu vereinen: mit einem Ballett über Black Sabbath. Was auf den ersten Blick an eine grauenhaft kommerzielle Best-of-Show denken lässt, bei der Ballerinas zu amtlichen Rockrhythmen über die Bühne wirbeln. Aber: Acosta würde nicht das Royal Ballet leiten, wenn er nur auf den schnellen Erfolg schauen würde. Und John Neumeier, der am Ende dieser Woche Abschied vom Hamburg Ballett feiert, würde die Produktion nicht zu den Hamburger Ballett-Tagen einladen, wenn hier kein künstlerischer Anspruch vorhanden wäre.
Heavy Metal trifft Ballett: Was Black Sabbath in der Staatsoper macht
Also: „Black Sabbath – The Ballet“ ist aufgebaut als Triple Bill, mit drei ästhetisch unterschiedlichen Akten unter der Gesamtleitung des schwedischen Choreografen Pontus Lidberg, zu eigens komponierter Musik, gespielt vom hauseigenen Sinfonieorchester, in die sich immer wieder Sabbath-Klänge mischen. Der von Paúl Reinoso choreografierte Beginn, „Heavy Metal Ballet“, konzentriert sich auf Musik und Tanz, es folgt „The Band“ (choreografiert von Cassi Abranches), das die Geschichte des Quartetts um Sänger Ozzy Osbourne und Gitarrist Tony Iommi (der auf dem Programmzettel als musikalischer Berater genannt ist) in den Blick nimmt. Den Schluss übernimmt dann Lidberg selbst: Mit „Everybody is a Fan“ schaut er auf das Verhältnis zum Publikum.
Der Abend ist also keine ehrfürchtige Verbeugung vor ein paar Rockdinosauriern, sondern das tänzerische Einfühlen in die Tiefen einer Musik. Im Grunde machen Lidberg und seine beiden Mitstreiter hier das, was jeder Choreograf macht, wenn er ein sinfonisches Ballett kreiert: Sie spüren nach, wie sich eine bestimmte Komposition in Tanz umsetzen lässt. Nur dass diese Komposition hier nicht die Dritte Sinfonie von Gustav Mahler ist, sondern die Sabbath-Klassiker „Planet Caravan“, „Paranoid“ und „War Pigs“.
Birmingham Royal Ballet in Hamburg: Tänzerisch ist das mehr als beeindruckend
Tänzerisch ist das mehr als beeindruckend. Der Ruf des Birmingham Royal Ballet kommt nicht von ungefähr, immer wieder gelingen dem Ensemble Sprünge und Drehungen von atemberaubender Präzision, gerade zu Beginn vermitteln die großen Gruppenszenen eine dunkle Bedrohung. Aber insbesondere dann, wenn Tanz und Musik konträr laufen, gewinnt der Abend etwas, das über die Summe der einzelnen Teile hinausweist: Mehrfach choreografiert Abranches in „The Band“ überraschende Passagen, bei denen die Riffs Sabbath-typisch langsam und schwer durch den Saal walzen, während die Tänzer weiterhin schwerelos über die Bühne wirbeln – und schafft so eine interessante Spannung.
Wenn dagegen Musik und Tanz parallel geführt werden, eröffnet sich eine ebenfalls unerwartete Sichtweise. In Paul Murphys Dirigat nähern sich die orchestralen (und durch eine Rockband verstärkten) Black-Sabbath-Songs dem Industrial Rock an, was mit der industriellen Vergangenheit Birminghams (und dem proletarischen Hintergrund dieser Musik) begründbar ist. Gleichzeitig hat der perfekt gesetzte Spitzentanz in diesen Passagen eine maschinelle Anmutung, sodass man den Eindruck hat, dass hier zwei Maschinerien vor sich hin rattern, schwer und hart die eine, anmutig die andere. Was man auch als zaghafte Kritik an der Körperperfektion der Ballettwelt lesen kann.
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Was freilich das Quäntchen zu viel ist: wenn Gitarrist Marc Hayward auf die Bühne schreitet und mit wehendem Haar ein Solo spielt. Dass der Schritt vom Ballett zur Rockstar-Pose nicht weit ist, dürfte bekannt sein, zumal „Black Sabbath – The Ballet“ hier auch keine eigene Haltung entwickelt. Wenn Tänzer Lachlan Monaghan ein paarmal mit kräftiger Stimme singt, nur um sich gleich darauf wieder ins Corps de Ballet einzureihen, dann ist das auch mehr (beeindruckender) Leistungsnachweis als echte künstlerische Idee. Und gerade in Lidbergs „Everybody is a Fan“ versanden die Massenszenen oftmals in „Chorus Line“-Konvention. Sei es drum.
Aus Großbritannien hört man, dass Ballettdirektor Acosta seinem Haus mit „Black Sabbath – The Ballet“ ganz neue Zuschauerschichten erschlossen habe. In Hamburg ist die Schwellenangst traditionell nicht so ausgeprägt wie im englischsprachigen Raum, dennoch: Dass man bei der Gastspielpremiere am Dienstagabend auch verwaschene, am Bauch spannende Band-T-Shirts und schüttere, lange Haare im Saal entdecken konnte, ist ebenfalls eine erfreuliche Erweiterung der Publikumsstruktur. Und tatsächlich ist der Abend sehenswert: als Produktion, die sowohl den Tanz als auch die Rockmusik ernst nimmt. Und bei der sich Fans beider Künste abgeholt fühlen können.