Hamburg. Frank Goosens Romanadaption feiert als Komödie mit großem Ensemble und sehr vielen Songs Premiere. Wo bleibt der Heimatgedanke?
Warum nicht mal, am besten sogar zweimal, auf dem pinkfarbenen Rollator sitzend rocken und das Publikum zu den Klängen von AC/DCs „Highway To Hell“ zum kräftigen Mitklatschen animieren? Geht alles, geht richtig ab im Ohnsorg-Theater. Nur dass der Song der australischen Hardrock-Kapelle hier in der plattdeutschen Fassung „Af in de Höll“ heißt und als Zugabe nach der Premiere von „Sommerfest“ zur großen Freude der Gäste ein weiteres Mal durch den Saal dröhnt.
Angestimmt hat ihn in ihrer Rolle als alte Dame Beate Kiupel. Die Schauspielerin, seit mehr als 35 Jahren am Ohnsorg, ist nur eines von gleich neun festen Ensemblemitgliedern, die das Theater bei seiner letzten Premiere dieser Spielzeit aufgeboten hat. Mehr geht kaum, weder personell noch musikalisch. Für das, was Regisseur Marc Becker und Übersetzer Frank Grupe in ihrer Bühnenfassung nach dem Roman von Frank Goosen arrangiert haben, greift der Begriff Komödie zu kurz. Entstanden ist beinah ein Stück Musiktheater, in dem eigentlich der Begriff Heimat im Zentrum stehen sollte.
Theater Hamburg: „Sommerfest“ mit viel Musik zum Finale der Ohnsorg-Saison
Dafür und für seinen Ruhrpott-Humor ist der Bochumer Goosen bekannt. Jedoch hat der erfahrene Theatermann Grupe die Handlung aus dem tiefen Westen in den hohen Norden verlegt. Hier nun trifft der Protagonist Stefan Zöllner (Flavio Kiener) aus München kommend statt in Bochum auf dem Kieler Hauptbahnhof ein.
„Heimat hett Geschichten. Un Geschichten blievt in de Spraak, in ‘t Ohr Un: in ‘t Hart… näh?“, deklamiert das Ensemble der insgesamt zwölf Mitwirkenden im Prolog. Gleich anschließend kündigt das Gros als sogenannter Nasenchor in nasaler Stimmlage eine bahntypische Verspätung des ICE nach München an. Erster Beifall und erste Lacher sind damit schon mal gewiss. Stefan muss sich erst mal setzen und die Erlebnisse der vergangenen Tage verarbeiten.
Ohnsorg-Stück: Stefans Treffen mit erster Freundin „Charlie“ – geht da noch was?
Wie in einer Art Rückblende erzählt Regisseur Becker fortan das Geschehen aus Stefans Perspektive, lässt das Publikum an den Erlebnissen und Gedankengängen der Hauptfigur teilhaben. Er, von Beruf Theaterschauspieler, lebt seit zehn Jahren in München und ist gekommen, weil sein Onkel Hermann, der letzte Anker in der Heimat, gestorben ist. Nun will Stefan das Elternhaus veräußern. Ein Freiberufler muss ja sehen, wo er bleibt. Ist er nur ein Heimat-Tourist?
Getreu Goosens Romansatz „Woanders weiß er selber, wer er ist. Hier wissen es die anderen“ begegnet Stefan in seiner Heimatstadt den Mitmenschen seiner Kindheit und Jugend – und dabei immer sich selbst und seiner Vergangenheit. Am augenfälligsten ist das bei den Treffen mit seiner ersten Freundin Charlotte, genannt „Charlie“ (Rabea Lübbe). Geht da noch was?
Das fragen sich nicht nur die beiden Kieler Kinder, von Flavio Kiener und Rabea Lübbe überaus glaubwürdig verkörpert, sondern insbesondere die Menschen in deren Umfeld. Und dieses Panoptikum an Typen, von Ausstatterin Telse Hand (Bühne und Kostüme) mit vornehmlich rosa Perücken und Kopfschmuck in schrill-buntes Licht gesetzt, macht richtig Spaß.
Lästern über Autokennzeichen: von KI („Küsten-Idiot“) über NMS („Nie mehr Sex“) bis zu HH („Halbes Hirn“)
Ob Meike Meiners als Oma Luise oder eben Beate Kiupel in ihrer Dreifachrolle als Tante Änne, Frau Lorkowski und Frau Winnowski. „Nee, nee, München, det ist doch nix!“, rasöniert Kiupel am Gehwagen über die Bühne rollernd mehrmals über den Wohnsitz von Luises Enkel. Norddeutscher Szenenapplaus für große Komik mit kleinen Gesten und Spitzen Richtung Bayern.
Da setzt Marco Reimers als Stefans Schulfreund Thorsten, genannt „Toto“, in Baggy Pants bis zur Kniekehle schon mehr auf Ganzkörpereinsatz und verbalen Angriff. „De verloren Sohn is wedder dor“, frotzelt er, als Stefan zunächst nur Hochdeutsch sprechen will. Turbulent wird’s, wenn die beiden Freunde im Auto nach „Niemünster“ fahren, um einen Schrank abzuholen und über Autokennzeichen lästern: von KI („Küsten-Idiot“) über NMS („Nie mehr Sex“) bis zu HH („Halbes Hirn“) lässt „Toto“ kaum jemanden ungeschoren.
„Wi laat di nich alleen“, Ohnsorgs neue Platt-Version von „You´ll Never Walk Alone”
Die Ohnsorg-Stars Oskar Ketelhut, als „Diggo“, mit lakonischem Humor, und Erkki Hopf in einer Dreifach-Rolle meist gekonnt schrullig, bekleiden diesmal nur Nebenrollen, überziehen aber in ihrem Spiel bewusst. Sie fügen sich ebenso ins Ensemble ein wie die Gastschauspieler Philipp Weggler und Julia Kemp.
Die Übergänge zwischen den Szenen in Marc Beckers Inszenierung sind meist fließend, mit jeweils an die Bühnenrückwand projizierten Hintergrundbildern. Die zahlreichen live gesungenen Songs tragen lange Zeit dazu bei. Und Ensemblemitglied Caroline Kiesewetter, als überaus versierte Sängerin bekannt, drückt sich hier etwa im Song „Nothing Compares 2U“ aus. Auch das von ihr intonierte „Wi laat di nich alleen“, Ohnsorgs neue Platt-Version von „You‘ll Never Walk Alone”, passt zum Sommerfest des VfB Union Teutonia, das der Story den Titel gibt.
Ohnsorg-Mitglied Nele Larsen ist mit ihrem Mezzosopran die gesangliche Entdeckung des Abends
Bis das Fest mitsamt Fußballkick auf dem Platz endlich in Fahrt kommt und damit die Pause naht, dauert es etwas mehr als eine Stunde, zu viel der Nachspielzeit. Da hätten Becker und Dramaturgin Anke Kell besser früher zur Pause gepfiffen und Nele Larsen hätte in ihrer Rolle als Nachwuchssängerin Mandy in Erinnerung an Mary Hopkins frühen 70er-Hit nicht noch „Those Were The Days“ anstimmen müssen.
Larsen, jüngstes weibliches Mitglied der Ohnsorg-Mannschaft, ist mit ihrem schönen Mezzosopran zweifellos die gesangliche Entdeckung des Abends. Wobei die zweite Hälfte, böse ausgelegt, mit drei Liedern von ihr fast einem Larsen-Alleingang mit freundlicher Ensemble-Unterstützung gleicht. „Oh, Mandy“ von Barry Manilow ist hier noch am passendsten gewählt.
Da liegt die absurdeste Szene des Abends, die „Performance of Love“ von und mit Thomas Esser, als Parodie auf die Avantgarde bereits hinter allen Beteiligten. Die Schauspieler huldigen dem „Guru“ ironisch zu dessen Füßen sitzend. Gast-Musiker Esser hat gut ein Dutzend Musikstücke auch arrangiert, mal jazzig, mal rockig. Und als Zuschauer fragt man sich, ob sich die Handlung des Stücks nicht auch wie in Goosens Solo-Bühnenprogramm als „Heimat, Fußball, Rockmusik“ zusammenfassen ließe.
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Gehen oder bleiben? Diese Frage stellt sich letztlich Protagonist Stefan. „Fremde oder Freunde?“, um hier mal Howard „Howie“ Carpendale zu zitieren, hätte sie ebenso lauten können. In jedem Fall wird die Eingangsszene am Kieler Hauptbahnhof noch einmal aufgenommen. Man sieht sich immer zweimal im Leben. Mindestens.
„Sommerfest“ wieder Mi 29.5. bis Do 30.6., jew. 19.30, Ohnsorg-Theater (U/S Hbf.), Heidi-Kabel-Platz 1, Karten zu 31,26 bis 39,20 unter T. 040/35 08 03 21; www.ohnsorg.de