Hamburg. Die Bühnenversion von Yasmina Rezas Roman gräbt in der Vergangenheit einer neurotischen Familie sowie der deutsch-jüdischen Geschichte.
Trauerarbeit: Die Mutter ist hochbetagt gestorben, die Kinder Serge, Jean und Nana versuchen, halbwegs würdevoll die Beerdigung über die Bühne zu bekommen. So etwas gelingt bekanntermaßen nie, Geschwisterbeziehungen sind speziell, und immer schieben sich verdrängte Konflikte über die gemeinsamen Erinnerungen. Und schließlich kommt Serges Tochter Josephine auf die Idee, gemeinsam nach Auschwitz zu fahren. Ein tiefes Graben in der Familiengeschichte also, in Erinnerung an die Verstorbene. Dumme Idee, natürlich.
Die französische Autorin Yasmina Reza kann sich auf die Fahnen schreiben, mit Stücken wie den auch in Hamburg immer wieder gezeigten „Kunst“ und „Der Gott des Gemetzels“ die Boulevardkomödie neu erfunden zu haben: als gleichzeitiges, ernstes wie pointensicheres Unterhaltungstheater, das einer vorwiegend bürgerlichen Gesellschaft hoch ironisch die eigene Verkommenheit vor Augen führte. Was in der deutschen Rezeption ihrer Stücke freilich immer ein wenig unterging, war der jüdische Hintergrund der Protagonisten. In „Serge“, 2022 als Roman erschienen und für die Bühne bearbeitet von Georg Münzel, Oberspielleiter am Altonaer Theater, lässt sich dieser Hintergrund allerdings nicht mehr ignorieren: Nur durch ihr Jüdischsein erklären sich Traumata, an denen die Beteiligten leiden, immerhin wurden Teile der Familie von den Nazis ausgelöscht.
Theater Hamburg: „Serge“ stellt die Frage, was es heißt jüdisch zu sein
Und es ist löblich, dass das Programmheft zu Münzels Altonaer Inszenierung diesen Aspekt in den Mittelpunkt stellt. Was heißt es eigentlich, jüdisch zu sein, fragt der Autor Max Czollek da, und die Holocaust-Überlebende Eva Szepesi warnt eindringlich vor dem Rechtsruck in der europäischen Parteienlandschaft.
Die so kluge wie zurückhaltende Inszenierung hätte es angesichts dieser klaren Positionierung gar nicht nötig gehabt, dass auf Ulrich Bähnks Brust eine Kette mit Davidstern baumelt – religiös ist Bähnks Serge nämlich nicht, und sein Verhältnis zum Judentum ist so konfliktbeladen, wie all seine Verhältnisse sind. Zu seiner Frau, die gerade dabei ist, sich zu trennen, zu seiner Geliebten, zu seiner Familie. Von dieser kleinen Übereindeutigkeit abgesehen, spielt Bähnk Serge sehr einfühlsam: als Mann, der nicht weiß, wie er sich zu seiner Umgebung verhalten soll, und der deswegen von allem immer ein bisschen zu viel macht, der ein bisschen zu laut ist, ein bisschen zu lustig, ein bisschen zu aggressiv. Seine Unsicherheit kompensiert er mit Ticks, und wie der Darsteller diese Ticks in einen leicht aus der Form geratenen Körper legt, das ist ganz große Schauspielkunst.
Theater Hamburg: Münzel lässt seinen Darstellern Raum, ihre Figuren zu modellieren
Überhaupt lässt Münzels Regie den Darstellern viel Raum, ihre Figuren zu modellieren. Dirk Hoener zeigt Jean als gehemmten kleinen Bruder, der sich ganz gut eingerichtet hat in der Bewunderung des vorgeblich souveränen Serge, während Anne Schiebers Nana verzweifelt nach Autonomie sucht und dabei zunehmend überspannt agiert. Dass Josephine im Vergleich blass bleibt, liegt nicht an Darstellerin Chantal Hallfeldt, sondern an der Rolle: Serges Tochter ist in dieser schwer gebeutelten Familie vor allem ein Katalysator, der die Konflikte zum Vorschein bringt, weniger ein echter Charakter.
Ähnlich zurückhaltend wie die Regie erweist sich auch die Ausstattung (Bühne: Ute Radler, Kostüm: Celina Blümner). Im Grunde sieht man vor allem dunkel gekleidete Darsteller vor dunklem Hintergrund, nach und nach öffnen sich weitere Vorhänge, hinter denen freilich nur noch tieferes Dunkel lauert – dieses Stück ist ein Hinabsteigen in immer düsterere Schichten der Vergangenheit, nicht nur einer Familie, sondern auch der deutschen Geschichte. Am Ende jedenfalls stehen dunkle Podeste, die nicht von ungefähr an das Stelenfeld des Berliner Holocaust-Mahnmals erinnern. „Nicht wirklich witzig, das Ganze“, heißt es an einer Stelle, „jetzt ist Schluss mit lustig“. Wohl wahr.
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Aber auch wenn es nicht wirklich witzig ist: Unterhaltsam ist der rund zweistündige Abend durchaus. Weil Rezas Vorlage inhaltlich originell ist, weil das Darstellerquartett perfekt harmoniert, weil Münzels Inszenierung den Stoff in ihrem Minimalismus optimal fasst. Und weil einem diese Familie schlicht nahegeht, trotz ihrer Unausstehlichkeit. Am Ende gelingt Münzel ein Schlussbild, das ist so berührend, so intelligent aufgebaut, im Grunde eine so konsequente Verweigerung eines Boulevard-Höhepunktes, wie man sie nur inszenieren kann, wenn man den Boulevard ganz genau verstanden hat. Und wer nach solch einem Nicht-Schluss Serges Familie noch nicht ins Herz geschlossen hat, dem ist auch nicht mehr zu helfen.
„Serge“ wieder Do 30./Fr 31.,5. und 2.-29.6., jew. 19.30 (So 18.00), Altonaer Theater, Museumstraße 17, Karten unter T. 040/39 90 58 70, www.altonaer-theater.de