Hamburg. Die französische Starautorin Yasmina Reza legt einen federleichten, tiefsinnigen, schnoddrigen Roman über die Erinnerungskultur vor.
„Schindlers Liste“ war der bedeutende Film über die Shoah. Als er 1993 in die Kinos kam, folgte sein Einsatz in pädagogischen Zusammenhängen auf dem Fuße. Ja, so, als Leinwand-Drama, kann man vom Völkermord erzählen. Vier Jahre später machte Roberto Benigni mit seinem wie Spielbergs „Schindlers Liste“ Oscar-prämierten Film „Das Leben ist schön“ aus dem Konzentrationslager eine Tragikomödie. Auch das geht.
Und dennoch ist es mindestens so, dass man kurz stutzt, wenn man Yasmina Rezas neuen Roman „Serge“ liest. Vier Besucherinnen und Besucher, die sich in Auschwitz ungeniert kabbeln. Einer von ihnen, er ist um die 60 und müsste es doch besser wissen, hat überhaupt keine Neigung, sich mit dem groß angelegten Morden zu beschäftigen, und geht trotzig in den KZ-Streik.
Buchkritik: Yasmina Reza legt mit „Serge“ einen Bestseller vor
Das in jedem Fall Gute ist: Es ist unterhaltsam und amüsant, Serge bei seinen vor der, nun, Kulisse des Vernichtungslagers aufgeführten vordergründigen Interessiert-mich-nicht-Manövern zuzusehen. Was schert ihn erst mal das Gedenken und das Auseinandersetzen mit der Familiengeschichte, wenn ihn gerade seine Lebensgefährtin verlassen hat und sich der Neffe ausnehmend frech geriert? Überhaupt, die jungen Leute – hier: seine Tochter – können ja nicht mal die Namen historischer Orte richtig aussprechen: „Osvitz!! Wie die französischen Goys! Lern erst mal, das richtig auszusprechen. Auschwitz! Auschschschwitz!“
Serge ist ein Charakter, wie er idealtypisch ist für die französische Schriftstellerin und Theaterautorin Yasmina Reza. Bekannt wurde sie mit ihren bissigen Stücken „Der Gott des Gemetzels“ und „Kunst“. Etabliert ist die Französin, die ungarische und iranische Wurzeln hat und aus einer weitverzweigten jüdischen Familie stammt, als Meisterin der Tragikomik, des boshaften Dialogs. Indem sie diese Zuschreibungen abermals mit Leben füllt, brilliert sie auch mit „Serge“ – der Roman steht auf der deutschen Bestsellerliste zu Recht weit oben.
Trivial ist an Yasmina Rezas Roman nichts
Und würde dies sicher auch tun, wenn es die potenziell provokante Auschwitz-Episode nicht gäbe. Trivial ist an Rezas Roman nichts, und der Besuch der Gedenkstätte (samt scheiterndem Innehalten an der Todesrampe) erfüllt ja einerseits auch ihren Zweck, gewissermaßen: Die jüdische Familie, die sich assimiliert hat und sich wie jede andere im Alltag verzettelt; da muss die traumatische Vergangenheit der Sippe nicht zwangsläufig im Mittelpunkt stehen, oder? Und tut es plötzlich doch. Josephine, Serges Tochter, hat sich nach dem Tod der Großmutter für die Erinnerungsreise starkgemacht. Sie kann es sich leisten, ist sie doch jung. Das Thema von „Serge“ ist die Vergänglichkeit, ist die Hinfälligkeit des Menschen.
Kein Wunder also, dass Serge auf die Shoah keinen Bock hat, so kann man es auch sehen. Sein jüngerer Bruder Jean räsoniert in Birkenau grundsätzlich über die Erinnerungskultur: „Ich schwankte zwischen Kälte und dem Bemühen, etwas zu empfinden, womit man nur sein Wohlverhalten unter Beweis stellen will. Und ich denke, ist all dies ,Vergesst nicht!‘, sind all diese wilden Mahnungen zum Gedenken nicht zugleich auch Ausflüchte, um die Ereignisse zu entschärfen und sie guten Gewissens in der Geschichte zu entsorgen?“
Serge ist ein Kotzbrocken und Narzisst
Womit der Roman also auch eine Gedankentiefe bekommt, die die Banalität des Bockigen auszugleichen vermag, aber im Hinblick auf die Gedenkkultur gleichzeitig herausfordernd bleibt. Als deutscher Leser denkt man angesichts von Jeans grundsätzlicher Infragestellung an Martin Walsers „Auschwitzkeule“ und die Aufgeregtheiten nach seiner 1998er-Friedenspreisrede. „Serge“ erzählt auf nur knapp 200 Seiten eine Familiengeschichte, in der die drei Geschwister Serge, Jean und Nana Popper auf widerborstige, schnoddrige und völlig unsentimentale Weise in den Blick rücken.
Dass eine von ihnen zur Titelfigur aufsteigt, ist insofern schlüssig, als Serge insgesamt die schärfsten Konturen bekommt: Er ist der Kotzbrocken, dem man irritierenderweise seine Sympathie nicht versagen kann. Sein Narzissmus ist niederschmetternd und befreiend. Seine habituelle Unverschämtheit eine große Schau. Seine emotionale Bedürftigkeit so allgemein menschlich, dass man sich ihm nahe fühlt. Aber so rücksichtslos und literarisch forciert, wie Serge durchs Leben geht in seiner Selbstherrlichkeit, wird aus ihm die exzeptionelle Ausnahme: der komische Romanheld einer menschlichen Komödie, der sich überhaupt keine Mühe gibt, die Bedürfnisse anderer anzuerkennen. Wie bratzig er sich etwa über den sanften und nichts als wunderbar zu nennenden Schwager auslässt.
- Publikumspreis: Landesschau kürt Besucher-Liebling
- Zu dieser irischen Komödie passt ein süffiges Guinness
- Warum Corinna Harfouch künftig weniger Filme drehen möchte
Yasmina Reza gesteht den Menschen ihre Schwächen zu
Als bräuchte er ein Ventil für innere Kämpfe, die er sich nie eingestehen würde. Die Meisterschaft Yasmina Rezas besteht im rein szenischen Erzählen. Nichts wird je kommentiert, erst recht nicht die scheinbare Indifferenz dem Holocaust gegenüber. Reza gesteht den Menschen ihre Schwächen zu und erkennt dabei, dass in jenen mehr noch als die Zärtlichkeit des Fehlbaren die Komik des Humanen zu finden ist.
Es ist nicht schwer, diesen Roman federleicht zu nennen, wo doch die existenzielle Schwere in unzähligen Lästereien, perpetuierenden Akten des Nichtverstehenwollens und verbalen Gemeinheiten versteckt ist. Mögen sich die Geschwister auch fremd geworden sein, es hält sie doch ein Band zusammen, und natürlich wissen sie, dass ihre Herkunft keine ganz gewöhnliche ist. Aber was die Misstöne bei sonntäglichen Zusammenkünften angeht, sind alle Familien gleich.