Hamburg. Bei der mitreißenden Generalprobe mit Carsten „Erobique“ Meyer und Jacques Palminger war die Immanuelkirche auf der Veddel überfüllt.

Schwer zu sagen, ob die Immanuelkirche auf der Veddel jemals so gut gefüllt war. Selbst auf dem Boden hocken noch Neugierige auf Sitzkissen. Jeder Zentimeter ist belegt. Die Bühne tauchen Dutzende Retro-Lampen in ein warmes Licht. Carsten „Erobique“ Meyer setzt sich an die Orgel und beginnt ein Intro, das zwischendurch immer wieder versandet. Eine Band und verschiedene Sängerinnen und Sänger nehmen ihre Plätze unter der Orgel ein, wo Meyer ihnen bald an den Keyboards beispringt.

Veddel: Wie aus Amateurtexten Songs für die Schauspielhaus-Gala werden

„Disco-Roller“ heißt das erste Lied. Es ist ein fluffiger Pop-Song mit einem Refrain, der sich in den Gehörgang schraubt, und einem Rhythmus, bei dem man gleich die Tanzschuhe auspacken möchte. Der zweite Song bringt das Motto der Veranstaltung im Gesang Meyers auf den Punkt: „Songs for Joy heißt Liebe, Songs for Joy heißt Spaß. Songs for Joy heißt ganz bestimmt nicht Peinlichkeit und Hass.“

Das Studiokonzert unter dem Titel „Veddel & Friends“ ist eine Probe für eine große Gala, die am 29. und 30. Mai im Schauspielhaus über die Bühne gehen wird. Ihr Titel: „Songs For Joy“. Die Lieder sollen auch als Album veröffentlicht werden. Die Idee hatten die beiden Macher, der Hamburger Musiker, Autor und Schauspieler Jacques Palminger (Studio Braun) und der Musiker Carsten „Erobique“ Meyer schon vor einigen Jahren. 2009 realisierten sie am Berliner Maxim Gorki Theater ein ähnliches Event.

Bei der Generalprobe für das Musikprojekt „Songs For Joy“ war die Immanuelkirche auf der Veddel bis auf den letzten Platz gefüllt.
Bei der Generalprobe für das Musikprojekt „Songs For Joy“ war die Immanuelkirche auf der Veddel bis auf den letzten Platz gefüllt. © FUNKE Foto Services | Thorsten Ahlf

Ursprünglich wollten sie gemeinsam ein Gastro-Projekt stemmen. „Jacques kann richtig gut kochen, aber ich dachte, dann muss ich die ganze Zeit abspülen“, lacht Carsten Meyer bei einer Zigarettenlänge im idyllischen Garten der Kirche auf der Veddel. Palminger entwickelte dann das Motto: „Die Gäste nicht bewerten, sondern bewirten“. Und das steht nun auch „Songs For Joy“ voran. Es sei, so Palminger, die Idee einer „öffentlichen Volxküche mit Musik“. Ein Gefühl von Gemeinschaft ist zentraler Bestandteil. Das funktioniert so: Menschen schicken Texte ein, und die Musiker entwickeln aus den Ideen Songs. Viele scheinen auf eine solche Gelegenheit gewartet zu haben. Auf den Aufruf des Schauspielhauses gab es 200 Einsendungen, aus denen nun in nur zwei Wochen rund 20 Songs entstanden sind – etliche stammen von Menschen, die auf der Veddel leben.

„Songs For Joy“: Viele Musikerinnen und Musiker kommen von den Elbinseln

„Wir wurden warm und freundlich empfangen im Viertel“, erzählt Meyer. Da konnte es passieren, dass nach der Begegnung mit einem Bekannten auf der Straße spontan ein Schulchor für eine Aufnahme engagiert wurde. Das Spektrum der Songs reicht vom Jazz-Song über den Schlager und das Bossa-Nova-Stück bis zum Rock-Ballade. „Man lässt den Text kommen, und dann sagt der Text einem, was er will. Das ist dann eigentlich ein organischer Vorgang“, findet Carsten Meyer.

Die Kernband besteht aus Meyer am Keyboard, Palminger an der Perkussion, dem Gitarristen und Komponisten Chris Dietermann sowie dem Schlagzeuger Mario Hänni. Produzentin Peta Devlin sorgt für den richtigen Sound. Hinzu kommen weitere Musizierende und Singende, die das Duo in Wilhelmsburgs sehr aktiver Jazz-Szene auftat. Viele Musikerinnen und Musiker kommen von den Elbinseln.

Anne-Christine Heinrich wird beim Stück  „Bert und Ernie“ auf der Querflöte improvisieren.
Anne-Christine Heinrich wird beim Stück „Bert und Ernie“ auf der Querflöte improvisieren. © FUNKE Foto Services | Thorsten Ahlf

Zum Beispiel Anne-Christine Heinrich, die an diesem Abend beim Stück „Bert und Ernie“ auf der Querflöte improvisiert. „Bert und Ernie“ bezeichnet Meyer als ein „klassisches Vergleichslied“ und findet es unfassbar stimmig. Auf der Bühne singt er: „Wir sind nicht wie Romea und Julio. Nein, wir sind wie Bert und Ernie. Ich hab dich gernie“. Anne-Christine Heinrich entdeckten die Macher beim Festival „48 Stunden Wilhelmsburg“. Das heitere Jazz-Lied gefällt ihr: „Ich finde die Idee cool, dass aus den Texten professionelle Musik entsteht. Der Song erinnert mich an einen Ella-Fitzgerald-Standard.“

Die Melodien der neuen Songs erinnern häufig an die 1970er-Jahre

Einer, der seinen Text eingereicht hat, ist der Berliner Künstler und Musiker (Das Lunsentrio) Hank Schmidt in der Beek. Er kannte bereits die Berliner Version des Projekts. „Dann habe ich das Reimlexikon gepackt und einen Songtext eingeschickt.“ Das Lied „Die letzte Tram“ bezeichnet er als ein „Eckkneipenrührstück“. Die letzte Straßenbahn wird metaphorisch zum Feind des Besuchs am geliebten Ort, der Kneipe. Schmidt in der Beek ging davon aus, dass Schauspielerinnen und Schauspieler die Textzeilen singen, doch dann fragten ihn die Macher, ob er das nicht gleich selbst einsingen möchte. Und so steht auch er bei diesem Studiokonzert neben Ensemblemitgliedern wie Angelika Richter, Christoph Jöde und Michael Weber auf der Bühne.

Die Melodien der Songs erinnern häufig an die 1970er-Jahre. Meist sind es sanfte, auf Klavier, Bass und Schlagzeug basierende Arrangements. Die Texte zeigen viel Mut zum ehrlichen Gefühl von melancholisch bis frech – und es gibt keine Angst vor Kitsch. Um Worte ist auch Jacques Palminger nicht verlegen, der geübt den Conférencier zwischen Schamane und Verkäufer gibt und die Songs als „frisch aus der Backstube“, sozusagen „direkt vom Blech“, anpreist.

Am Küchentisch entstand das Lied „In der Enge meiner Zwänge“

Mechthild Fortmann hat ebenfalls einen Text eingereicht. Seit 20 Jahren lebt die Grafikerin auf der Veddel. „Ich wollte unbedingt mitmachen“, sagt sie. Irgendwann entstand am Küchentisch „In der Enge meiner Zwänge“, ein Lied über Konventionen und Komfortzonen. „Ich wusste nicht genau, was sie daraus machen würden. Ich habe mir ein Tanzstück gewünscht. Nun ist es auf jeden Fall ein Wipp-Stück geworden“, lacht sie.

Als eine Art „Crazy-New-Wave-Song“ bezeichnet Meyer das Lied. „Die Texte und die Menschen kriegt man nicht unbedingt zusammen. Man hat kein Klischee im Kopf, ist aber manchmal überrascht“, sagt Carsten Meyer. Die Veddeler Autorin Gülay Gendigelenoğlu-Erdem wohnt in direkter Nachbarschaft und hat mit „Neredesin“ („Wo bist du?“) einen Text eingereicht. Sie schätzt die Immanuelkirche und das dazugehörige Café Nova schon lange. „Ich schreibe seit 1984 über das Leben und die Liebe im Allgemeinen“, sagt die Autorin.

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Bei so viel Talent fällt die Auswahl nicht leicht. Und so wird am Ende wohl ein Doppel-Album stehen. „Wir tun uns wirklich schwer damit, Songs auszusortieren. Da wurde so viel Liebe hineingesteckt von allen Beteiligten“, sagt Jacques Palminger. „Wir landen leicht in der Überlänge, aber das hat das Sanremo-Songfestival 1978 auch gemacht.“ Der Abend zeigt, es gibt viel Talent in der Stadt, oder wie es Palminger auf den Punkt bringt: „In Hamburg steckt ganz viel Poesie.“ Und zwar eine positive, Menschen verbindende, die sich hoffentlich dann auch auf die große Schauspielhausbühne überträgt.

New Hamburg: „Songs For Joy – Die Gala“29./30.5., jew. 20 Uhr, Schauspielhaus, Kirchenallee 39, Karten unter T. 24 87 13, www.schauspielhaus.de