Hamburg. Der Hamburger Sänger spielte als Vor- und Hauptband im ausverkauften Kiezclub. Für einige der 1500 Fans wurde der lange Abend zu heiß.
Manchmal beschleicht einen das Gefühl, dass sich Deutschlands Popsänger heimlich absprechen. Wie sonst ist es zu erklären, dass Bosse, Tim Bendzko und Max Giesinger derzeit die Barclays Arena links liegen lassen und lieber auf dem Kiez in Docks und Große Freiheit 36 spielen? Okay, Johannes Oerding visiert gerade für 2026 das Volksparkstadion an, und Bosse spielt nächste Woche auch wieder in der Sporthalle. Aber mal wieder zurück zu den Wurzeln zu gehen, zurück in die Clubs, das hat einen Reiz.
Maxi Giesinger jedenfalls wählte am Freitag nach seiner Show im März 2023 in der Barclays Arena das ausverkaufte Docks, um den zehnten Geburtstag seines Debütalbums „Laufen lernen“ zu feiern – und das gleich mit einem Doppelauftritt: Die „Vorband“ sind 30 Minuten mit Max Giesinger und seiner Band von 2014, die mit kleinem Besteck vor einem Vorhang sieben Songs von „Laufen lernen“ spielen. Danach kommt 90 Minuten lang der Headliner Max Giesinger mit der Band von 2024 (sprich die Band von 2014 und ein neuer Saxofonist) und den Hits, die seit seinem zweiten Album „Der Junge, der rennt“ 2016 einen regelmäßigen Platz im Radio gefunden haben.
Max Giesinger: „Absolut geiler Laden, das Docks hat noch gefehlt“
„Absolut geiler Laden, das Docks hat noch gefehlt“, freut sich Giesinger nach den ersten Liedern „Du kannst das“, „Irgendwas mit L“, „Wie Helden“ und „Mensch ohne Farbe“. Schon merkwürdig, dass der Club auf dem Spielbudenplatz noch in die Sammlung musste nach Auftritten an nahezu jeder Adresse in der Stadt, in der er seit 2016 lebt: Stage Club, Prinzenbar, Fabrik, Mojo Club, Markthalle, Große Freiheit 36, Stadtpark, Sporthalle, Barclays Arena. Immer weiter, größer, höher. So eine Clubshow und auch der vergleichsweise verhaltene Applaus für das „Vorprogramm“ und die weitgehend unbekannten Lieder wie „Unser Sommer“ und „Blutsbrüder“ erdet auch ein bisschen. Oder wie Giesinger sagt: „Ich bin der Einheizer für den echten Max Giesinger, ich habe ihn backstage getroffen, ein echtes Arschloch.“
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„Interessiert euch das Derby?“, fragt der in Waldbronn bei Karlsruhe aufgewachsene Giesinger, während sich die Stadt vor dem Docks in HSV und FC St. Pauli aufteilt, „mich auch nicht, wenn der KSC nicht dabei ist.“ Die Stimmung steigt auf Volksparkstadion-Niveau, als die Band nach einer halbstündigen Pause auf die jetzt maximal bebaute Bühne zurückkehrt. Zwei Ebenen, viel Licht, Luftschlangen bei „Irgendwann ist jetzt“, der Kontrast zur Vorband ist offensichtlich, auch musikalisch.
Giesinger im Docks: Mehrere Fans kollabieren in der Hitze im Kiezclub
Man erkennt durchaus, warum Giesinger mit seinen ersten Liedern bei diversen Plattenfirmen mit „wir melden uns. Bitte ruf nicht an“, abgefertigt wurde und letztendlich durch Crowdfunding den ersten Tonträger auf die Welt loslassen musste. Die Songs von „Laufen lernen“ sind nicht schlecht, aber stolpern noch ein wenig lyrisch und bei den Arrangements. Spätere Lieder wie „Legenden“, das ein Fan direkt ins Mikro singen darf, „Roulette“ oder „Die Reise“ mit einem Gitarrensolo von Giesinger sind dennoch zwingender, vielleicht sogar perfider komponiert: Unauffällig und verwechselbar im großen, zu großen Angebot deutscher Vornamen-Nachnamen-Sänger, aber mit der persönlichen Ebene zwischen Bühne und ersten Reihen verbindend und mitreißend.
Der neue, zum ersten Mal live gespielte und überraschend rockige Song „Butterfly Effect“ unterstreicht das auch im Text: Aus kleinen Begegnungen und Zufällen entsteht Ewiges, Bleibendes. Konsens-Pop. „Es sind sogar einige Männer hier“, staunt Giesinger beim Blick auf das Publikum, auch wenn die Männerstimmen beim nach Geschlechtern getrennten Mitsingspiel komplett untergehen. Die Stimmung steigt, und damit auch die Temperatur im Docks. Die nächste Songpremiere „Wimpernschlag“ muss fünf Minuten lang unterbrochen werden, weil ein Fan zusammengesackt ist. „Das kann bei einem Clubkonzert passieren“, weiß Giesinger, der sich mehrfach nach dem Zustand des erschöpften Fans erkundigt und ihn einlädt, nach der Show für ein Foto nach hinten zu kommen.
Max Giesinger: Auch die Münchener Freiheit ertönt in Hamburg
Giesinger setzt sich für die Solo-Ballade „4000 Wochen“ ans Keyboard, auch um sich eine Atempause zu gönnen. Vergeblich, ein weiterer Fan hat offenbar Kreislauf. „Wie machen wir das jetzt? Es ist zu warm.“ Dabei stehen die großen Hits noch aus, „Auf das, was da noch kommt“ deutet es schon an. Aber tatsächlich bleibt es in der letzten halben Stunde verschwitzt, aber gerade noch erträglich und ohne Unterbrechungen im rappelvollen Docks. „Wenn sie tanzt“ wird euphorisch mitgesungen, während der neue Saxofonist Oleg die Melodien von „Seven Nation Army“ und „Careless Whisper“ einstreut. Coverversionen sind seit jeher Bestandteil des Programms, dieses Mal wird „Ohne dich (schlaf ich heut Nacht nicht ein)“ von der Münchener Freiheit aus dem Archiv gekramt.
Beim Song „Zuhause“ fühlt sich Giesinger im Konfettiregen wie daheim: „Das sollten wir öfter machen, alle zehn Jahre“, sagt er und gibt als Zugabe noch den Song, mit dem alles begann: „80 Millionen“. Gefühlte 80 Millionen strömen gerade auf den Kiez, als das Docks mit dem letzten Song „Für immer“ ausgefegt wird. Wie ist eigentlich das Derby ausgegangen? „1:0 für Hamburg“. Ach so.