Hamburg. Auf Kampnagel zeigt die Berliner Choreografin ihre aktuelle Kreation „Beethoven 7“. Eine in großen Teilen radikale Zukunftsvision.

Am Anfang ist da ein dunkles elektronisches Grollen. Nebelberge türmen sich auf. Auf der Bühnenrückseite erhebt sich ein gleißendes Licht. Schemenhaft werden Umrisse der Tanzenden erkennbar: hier eine Dreiergruppe, dort eine einzelne Figur. Ist es ein Planet nach der Apokalypse? Sind es die ersten Wesen beim Erkunden von Neuland? Zu ihren zarten pastellfarbenen Kostümen tragen die Tanzenden einen Kopfschmuck, der mal an Blüten, mal an Insekten erinnert. Es könnten auch Aliens sein.

Sasha Waltz & Friends auf Kampnagel: Beethoven trifft auf Berghain-Techno

Die Berliner Choreografin Sasha Waltz und ihre Kompanie Sasha Waltz & Guests hat sich für ihre aktuelle Kreation „Beethoven 7“, die derzeit auf Kampnagel gastiert, zum Thema Freiheit von Beethovens 7. Sinfonie in A Dur, Op. 92 inspirieren lassen. Das geschieht allerdings erst im zweiten Teil des Abends. Der erste wird dominiert von dem in Berlin lebenden chilenischen Musiker Diego Noguera, der am Bühnenrand in „Freiheit/Extasis“ ultramoderne, auf die Spitze getriebene Live-Elektronik produziert. Berghain pur – aber keinen dumpfen Techno, sondern sehr subtil vibrierende Klanglandschaften.

Die fügen sich mit den tastenden Bewegungen der elf Tanzenden zu einem außerirdisch schönen – später auch mal fordernden – Tableau. Man sieht eingefrorene Gesten, gekrümmte Körper, die bald auch zu dynamischen zeitgenössischen Bewegungen finden. Mit der Zeit baut sich der Sound zu einer gigantischen Wand auf, die Bässe wummern durch die Körper. Am Ende versuchen sich die Tanzenden in gleißendem Rotlicht gegen den immer rasanteren Beat zu behaupten. Das ist wohlkalkulierter Überwältigungstanz, entwickelt aber durch die Präzision der fantastischen Tänzerinnen und Tänzer einen stimmigen Assoziationsraum.

Die Choreografie hat etwas Leichtfüßiges, aber auch etwas Feierliches, Erhabenes

Umso härter fällt der Kontrast im zweiten Teil nach der Pause aus. Und der ist so offensichtlich, dass es sich Sasha Waltz damit vielleicht etwas zu leicht macht. Beethovens Sinfonie Nr. 7 – vom Komponisten 1813 ihm Rahmen eines Benefizkonzerts für Kriegsversehrte uraufgeführt – erklingt vom Band. Freiheitsdrang mischt sich in der Choreografie mit einem streng orchestrierten Bewegungskorsett, erinnernd an den historischen Kontext der Restauration, die auf das grausame Ende der Französischen Revolution folgte.

Nun tragen die Tanzenden lange schwarze Röcke und Hosen, wiegen sich in Kreisbewegungen, trippeln, springen und drehen. Man sieht ausgebreitete Arme, lächelnde Gesichter, Begegnungen. Es hat etwas Leichtfüßiges, aber auch etwas Feierliches, Erhabenes. Ganz wie die Musik. Gelegentlich scheren Einzelne aus dem Reigen aus, versuchen zuckend und zitternd der Uniformität zu widerstehen. Eine Tänzerin schwingt eine riesige Flagge aus transparentem Glitzerstoff, Zeichen einer unbekannten Nation.

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Auch wenn das Publikum den zweiten Teil wahrscheinlich als zugänglicher empfindet, bleibt der stärkste Eindruck des Abends dem ersten Teil vorbehalten. Einer radikalen, kraftvollen Vision von Zukunft, Gemeinschaft, Widerstand und Selbstbehauptung – nach der Apokalypse.

Sasha Waltz & Guests: „Beethoven 7“weitere Vorstellungen bis 21.4., jew. 20 Uhr, Kampnagel, Jarrestraße 2024, ausverkauft (evtl. Restkarten an der Abendkasse); www.kampnagel.de