Hamburg. Dieses zweitägige Gastspiel des Luxus-Orchesters ist ein Höhepunkt der Spielzeit. An beiden Abenden rast das Publikum vor Begeisterung.
Weich kräuselt sich die Wasseroberfläche, als die Sologeige nach einem langen, mäandernden Aufstieg die hohe Lage erreicht hat. Die Finger der linken Hand schicken noch ein paar Miniläufe hinterher, dann geht der Klang wie ein Schäumchen im fahl-hauchigen Pianissimo der Tuttigeigen auf.
So bildhaft klingt das Violinkonzert „Au-delà du rêve“ (übersetzt „Jenseits des Traums“) von Thierry Escaich, ein Auftragswerk der Münchner Philharmoniker, der Philharmonie de Paris und der Elbphilharmonie. Escaich hat es seinem französischen Landsmann Renaud Capuçon gewissermaßen in die Finger geschrieben, die Uraufführung war vor wenigen Tagen in München. Nun sind Orchester und Solist für gleich zwei Konzerte in der Elbphilharmonie zu Gast. Am zweiten Abend unter der Leitung von Daniel Harding erklingt dieses Werk auch in Hamburg.
Elbphilharmonie: Die Münchner Philharmoniker und das ganz große Bruckner-Glück
Escaich hat ein ungemein sinnliches, melodiöses Stück geschrieben und damit einen weiteren Beweis dafür geliefert, dass sich die zeitgenössische Musik von der Leibfeindlichkeit der Avantgarde des 20. Jahrhunderts emanzipiert hat. Ja, Musik ist zum Genießen da, das ist nicht verboten!
Dieses Violinkonzert ist nichts für Angeber. Über weite Strecken ist die Sologeige Teil des Gesamtklangs, anstatt darüber zu segeln. Capuçon macht denn auch kein Aufhebens um die spieltechnischen Anforderungen, er konzentriert sich auf den Ausdruck. Wenn es besonders emotional wird, lehnt er sich leicht nach hinten und zieht das linke Bein ausgestreckt nach oben, als wollte er einen imaginären Ball ans andere Ende eines Fußballfelds schießen. Das sieht auf der Konzertbühne einigermaßen drollig aus und müsste sämtliche Geigenlehrer dieser Welt auf den Plan rufen, aber immerhin kippt er dabei nicht um.
Bruckners Vierte gehört auf jeden Fall zur DNA dieses Klangkörpers
Zu hören sind diese (vermutlich unbewussten) Kabinettstückchen allerdings nicht. Sein Geigenton hat Kern und trägt auch im Piano durch den ganzen Saal. Okay, es ist die Guarneri „Panette“, auf der vorher kein Geringerer als Isaac Stern spielte – aber jede Musikerin und jeder Musiker weiß: Das Instrument kann noch so hervorragend sein, ohne die Behandlung nützt das nichts. Gerade die kapriziösen alten Italienerinnen wollen umworben sein. Die noble Klarheit, die Farbigkeit und Wärme des Tons verdanken sich Capuçons Bogenarm.
Für das Gesamterlebnis zeichnet natürlich das Orchester verantwortlich. Von Begleitung kann man hier kaum sprechen; es ist ein Geben und Nehmen, und Harding und das Orchester bewegen sich mit einer Selbstverständlichkeit durch die junge Partitur, als wäre Escaich ihre Mutter-Tonsprache.
Bruckners Vierte nach der Pause gehört auf jeden Fall zur DNA dieses Klangkörpers. Schließlich war eine von vielen bedeutenden Dirigentenpersönlichkeiten, die ihm vorstanden, der ebenso ausgewiesene wie exzentrische (und gefürchtete) Bruckner-Exeget Sergiu Celibidache. Solche Prägungen schreiben sich einem Orchester über Generationen hinweg ein. Und so wird die Vierte in der Elbphilharmonie zum ganz großen Bruckner-Glück.
Bei Dirigent Harding kann sich dieses Orchester seiner Sache stets sicher sein
Bruckners Musik fußt auf den Strukturen, auf der Entwicklung von Gedanken. Gefühliges Wogen verträgt sie nicht. An diesem Abend aber dürfen die Tempi flexibel fließen und atmen, ohne dass die Beteiligten das erst herausstreichen müssten. Harding, agil und schlank im Dirigat, kann sich bei dieser Luxuskarosse von Orchester seiner Sache stets sicher sein.
Das hat schon der Vorabend auf beglückende Weise deutlich gemacht. Die finnischen Wälder und die Geister und Götter der finnischen Mythologie in Sibelius‘ Tondichtung „Tapiola“ waren Kino für die Ohren. Und Mahlers Fünfte geriet zu einem wahren Psychogramm des Komponisten. Das begann mit einer Trompetenfanfare, die so gar keine Fanfare war, sondern Klage, Ahnung, Anklage auch gegen den Militarismus, der Mahlers Kindheit umgab und der in seinem Werk in Zitaten immer wieder auftaucht. Hinreißend beschwingt das Hornsolo im Scherzo.
Münchner Philharmoniker in der Elbphilharmonie: Hornrufe von herzzerreißender Einsamkeit
Wie die Fünfte Mahler ist auch Bruckners Vierte, die am zweiten Abend erklingt, ein halbes Hornkonzert. Der andere Solohornist des Orchesters hat Dienst – und spielt auf demselben, schwindelerregend hohen Niveau wie sein Kollege. Die einfachen Hornrufe am Anfang, nur unterlegt von einem fast unhörbaren Streichertremolo, sind von herzzerreißender Einsamkeit. Aber das Horn hält auch Zwiesprache mit der Flöte oder verschmilzt sein Timbre mit dem der Klarinette zu einer berückenden eigenen Klangfarbe. Und im langsamen Satz mischt es sich unauffällig in die Bratschengruppe, wiederholt ihre Seufzer, antwortet ihnen. Das geht unmittelbar zu Herzen, Struktur hin oder her.
Harding setzt ohnehin auf das Kreatürliche an der Musik. Es sind die Kontraste, die die Lebendigkeit schaffen. Gegen ein naiv singendes Geigenthema lässt Harding die ganze klangliche Potenz der Münchner Blechfraktion prallen. Und die Holzbläser machen Kammermusik so aufmerksam, ja fast zärtlich, wie man es sich wünschen kann.
Ob Bruckner spielen glücklich macht? Es sieht tatsächlich so aus
Wenn man ins Orchester schaut, sieht man immer mal jemanden verschwörerisch lächeln. Oder jemand hört den anderen Stimmen zu und wiegt dabei selbstvergessen mit dem Kopf, dann wieder springt jemand schier vom Stuhl bei einem plötzlichen Forte. Ob Bruckner spielen glücklich macht?
Bruckner hören in diesem Fall zweifellos. Nach dem schwungvollen, aber geradezu beiläufigen Schluss – die Sinfonie kann noch so lang sein, mit dem „Hochachtungsvoll“ hält sich der Komponist nicht länger auf als nötig – rast das Publikum.
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Die Saison ist zwar noch nicht vorbei. Aber es ist sicherlich nicht übertrieben zu sagen: Dieses Gastspiel ist ein Höhepunkt der Spielzeit.