Hamburg. Die Performance „In C“ zur gleichnamigen Komposition von Terry Riley war im Großen Saal zu erleben. Ein Ereignis mit einer Botschaft.
Das Tanzensemble verteilt sich noch im Dunkeln auf der Bühne des Großen Saals der Elbphilharmonie und beginnt mit minimalen Bewegungen: ein Schulterzucken hier, eine Kopfbewegung dort. Zwischen den zwölf farbig kostümierten Tänzerinnen und Tänzern fallen drei schwarz gekleidete Gestalten auf. Auch sie wechseln auf ihrer Position die Richtung oder nehmen gleich eine neue ein. So geht das Spiel eine Weile, bis sich die drei an den linken Bühnenrand begeben. Da warten schon ihre Instrumente.
Sasha Waltz & Guests: Getanzte Feier der Demokratie in der Elbphilharmonie
Sasha Waltz & Guests sind seit ihrer „choreografischen Erkundung“ der Elbphilharmonie 2017 noch vor der offiziellen Eröffnungszeremonie gern gesehene Gäste in dem Konzerthaus an der Elbe. Die Performance „In C“ zur gleichnamigen, 1964 verfassten, Minimal Musik des US-Komponisten Terry Riley war erst vor gut einem Jahr auf Kampnagel zu sehen. Eine Wiederholung ist der Abend aber schon deshalb nicht, weil das Musik-Trio The Young Gods diesmal die Klänge live auf der Bühne beisteuert. Die Berliner Star-Choreografin hat diese Tanz-Performance – geprägt von ihrer Entstehungszeit während der Pandemie – mit Bedacht so angelegt, dass sie in ganz unterschiedlichen Räumen funktioniert. So gastierte sie bereits open air auf dem Platz vor der Neuen Nationalgalerie in Berlin.
Der Tanz basiert auf 53 Bewegungsfiguren, die jede Tänzerin und jeder Tänzer für sich allein einstudiert hat und die mit den 53 musikalischen Phrasen von Rileys Komposition „In C“ korrelieren. Die Musik, wie auch der Tanz huldigen dem Prinzip der offenen Form. Sowohl die Musizierenden wie auch die Tanzenden können einzelne Phrasen und Bewegungsabschnitte ganz nach Belieben wiederholen oder in eine neue Phrase eintreten. Rhythmische Verschiebungen und Überlagerungen benachbarter Phrasen sind vom Komponisten – wie von der Choreografin – ausdrücklich erwünscht. Gleichzeitig gibt es immer auch Konstanten, die einen sanften, fließenden Übergang ermöglichen. Auf diese Weise wirkt jede Aufführung zugleich wie ein neues Arrangement.
Die Schweizer Post-Industrial-Band The Young Gods sorgt für den Soundtrack
Dem Betrachter fällt dieses Zufallsprinzip nicht auf. Erstaunlich organisch entwickeln sich Tanz und Musik, greifen gekonnt ineinander, setzen immer wieder zu neuer, ekstatischer Steigerung an oder gönnen sich zwischendurch auch mal eine kurze Atempause mit einer entschleunigten Episode. Der normalerweise vom Band eingespielte Sound erklingt hier satt, voll und rund.
Die drei Musiker der Schweizer Post-Industrial-Band The Young Gods sind zwar nicht mehr ganz so jung, wie der Name verspricht, ihr Sound klingt aber nach wie vor sehr frisch. Zu ihren Gründungszeiten um 1985 ließen ihre auf Samples und brachialen Klangwänden basierenden Konzerte noch eher an einen gewaltigen Elektroschock denken. Heute sind die drei nicht mehr nur Rock- und Elektro-Avantgardisten, sie loten auch die Grenzen des Genres aus im Dialog mit dem Theater, etwa mit Stücken von Kurt Weill oder eben dem Tanz. Franz Treichler bedient Samples und Gitarre und hält Blickkontakt mit dem Geschehen auf der Bühne. Hinter ihm knüppelt Bernard Trontin am Schlagwerk. Während Cesare Pizzi Samples vom Computer beisteuert.
Elbphilharmonie: Der Tanz ist Abstraktion in reinster Vollendung
Bei diesem Zusammentreffen ist verblüffend, wie gut sich das Trio mit der Minimal-Komposition von Terry Riley verbindet, ihr mal flirrende Techno-Rhythmen abgewinnt, dann fast Krautrock-artige Momente der Vertracktheit aufeinanderschichtet – und mal zu einer amtlich lauten Wall of Sound türmt. Bei The Young Gods klingt auch die üppige Elektronik handgemacht – und die kommt in der Raumakustik der Elbphilharmonie überraschend gut zur Blüte – was in diesem Saal bei verstärkten Sounds ja nicht immer gelingt. Was fehlt, sind die Bläsersätze, aber so recht vermisst man sie gar nicht. Schließlich hat der Komponist selbst verfügt, dass das Werk für beliebige Instrumente in beliebiger Anzahl besetzt werden kann.
Der Tanz ist Abstraktion in reinster Vollendung. Mal vollführen die Tanzenden zarte Handgesten, bald schreiben sie große Armkreise in die Luft. Mal erfolgt ein Ausfallschritt nach hinten, gefolgt von einem Sprung, mal entwickeln sich sanft tänzelnde Schrittfolgen oder anspruchsvolle Bodenkombinationen. Mal werden im Lauf Distanzen überbrückt. In Gruppen zu zweit, zu dritt oder zu viert formieren sich die Tanzenden, überkreuzen sich mit anderen, wiederholen die Bewegung, variieren sie unzählige Male, schreitend, kreiselnd – manchmal wird auch ein Zusammenstoß in letzter Sekunde abgewendet.
Es wirkt wie ein Chaos – aber eben ein doch sehr geordnetes. Dieses vielfarbige Tanz-Tableau, das über den reinen Ästhetizismus der wohlgeformten Bewegung durchtrainierter, ausdrucksstarker Körper weit hinausreicht, erinnert letztlich daran, dass jeder Mensch Teil einer wundervollen Gemeinschaft ist.
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„In C“ ist dabei auch durchaus politisch zu verstehen. Es ist eine im besten Sinne demokratische Choreografie, in der jeder Tanzende innerhalb des Regelwerks seine eigene Freiheit austanzen und zwischen Führen und Folgen wechseln kann. Die Betonung liegt auf der Einhaltung des Regelwerks. Für Sasha Waltz ist „In C“ ein Stück darüber, „als Individuum Teil einer Gruppe zu sein, nicht ein Individuum in der Gruppe“. Letztlich ist es eine Feier des demokratischen Prinzips, die in Zeiten ihrer weltweit zunehmenden Gefährdung, eine ungebrochene Anziehungskraft entfaltet.