Hamburg. Im Centralkomitee stellen Schauspieler ein neues Hörbuch vor. Was Johanna Gehlen, Henning Venske und Frank Otto in Brokdorf erlebten.

Jahrestage kann man feiern, muss man aber nicht. Sollte man aber, sagten sich die Verantwortlichen vom Verein Kultur für alle e.V. Und so begrüßen Frank Otto und Oliver Neß am Montagabend fast 250 Menschen im vollbesetzten Centralkomitee (der Eintritt ist wie immer bei Veranstaltungen von Kultur für alle frei, und rund 100 Interessierte müssen leider draußen bleiben) zu einem frischen Jubiläum: ein Jahr Atom-Aus in Deutschland.

„Wir waren gekommen, um zu bleiben – bis zum Atomausstieg“, hatte Medienunternehmer Otto im Vorjahr zum zehnten Jubiläum des von ihm mitbegründeten Festivals Lesen ohne Atomstrom im Abendblatt-Interview gesagt. „Am 15. April 2023 gingen im letzten noch Strom produzierenden Reaktor Isar 2 die Lichter aus – in Deutschland nicht“, beginnt Schauspielerin Barbara Auer jetzt zu lesen. Kein Widerspruch, Treffer und Beifall vom Publikum, das zu einem Gutteil dem des guten alten Polittbüros entspricht, so der Name des Centralkomitees bis Sommer 2022.

Lesen ohne Atomstrom: Ein Jahr nach dem Ausstieg feiern Stars im Centralkomitee

Auer ist eine von sechs Akteuren des prominent besetzten Ensembles, welches das neue Hörbuch „Ziviler Ungehorsam schaltet Deutschlands Atomkraft AUS!“ eingesprochen hat. Bis auf den kurzfristig wegen eines Drehs in Bayern verhinderten Sebastian Bezzel lesen alle auf der kostenlos erhältlichen CD zu Hörenden live. Auf der Bühne in einer Kompaktversion von gut 90 Minuten, ab und zu unterbrochen von Hamburgs Blues-Legende Abi Wallenstein und vom Pianisten Günther Brackmann.

Und was Auer, Bezzels Ehefrau Johanna Christine Gehlen. Anna Thalbach, Johann von Bülow und ihr als führender Aktivist gegen den milliardenteuren Bahn-Tiefpunkt Stuttgart 21 bekannter Kollege Walter Sittler da im steten Wechsel vortragen, darf durchaus als Würdigung des jahrzehntelangen Engagements Hunderttausender in der außerparlamentarischen Anti-AKW-Bewegung gewertet werden. „Und nicht immer nur gegen etwas, sondern auch für Ressourcen-Schonung“, wie von Bülow im Kapitel „Gemeinsam fürs Klima und gegen das Atom“ ausführt.

Lesen ohne Atomstrom: Damals auch ein Protest gegen die „Vattenfall Lesetage“

Als „Die erneuerbaren Lesetage“ hatte sich Lesen ohne Atomstrom 2011 gegründet, insbesondere ein Protest zum etablierten Hamburger Literaturfestival „Vattenfall Lesetage“. Die waren damals auch Greenwashing des Atomkonzerns, unterstützt vom Senat und vom NDR. Andere Bündnisse hatten sich Jahrzehnte zuvor deutschlandweit ob der damaligen Technikgläubigkeit und unter Verdrängung des massiven Problems der Atommüll-Endlagerung gebildet: „Atomstrom – oder stempeln gehen!“, lautete in den frühen 1960ern etwa ein heute bizarr klingender gemeinsamer Slogan von Industrie und Gewerkschaften.

Bei der konzertanten Lesung wie im Hörbuch sind auch „Aktivist*innen“ – der bei Erzählungen über längst vergangene Jahrzehnte eingebaute Genderstern (auch für „Polizist*innen“!) erschwert das Zuhören – mehrerer Generationen beteiligt, es verleiht der ganzen Aktion noch mehr Glaubwürdigkeit. Als letzter der vier Augenzeugen trägt Henning Venske (heute 85) seine gekürzte, ungegenderte Fassung der in der linken Zeitschrift „konkret“ gedruckten satirischen Reportage der Anti-AKW-Demo von 1981 mit rund 100.000 Menschen in Brokdorf vor: „Man kann mir die Friedfertigkeit nicht absprechen“, zitiert Venske sich selbst. Er habe schließlich anders als die Polizei keinen Helm und keinen Knüppel dabei gehabt.

Wie Johanna Christine Gehlen und Frank Otto die „Schlachten am Bauzaun“ erlebten

Auch Johanna Christine Gehlen (als Elfjährige mit ihrer Mutter) und Frank Otto (heute 66) erlebten damals die „Schlachten am Bauzaun“. Dass das kurzfristige Verbot der Groß-Demonstration 1981 unzulässig war, stellte das Bundesverfassungsgericht erst vier Jahre später fest.

Weitere Kritiken

„Das Restrisiko hat der Menschheit den Rest gegeben“, erinnert Barbara Auer bei dieser auch für Jüngere aufschlussreichen, äußerst fakten- und zahlenlastigen Lesung an die Reaktor-Katastrophen 1979 in Harrisburg (USA), 1986 in Tschernobyl (damalige UdSSR) und im japanischen Fukushima 2011. Noch immer betreiben 32 Länder weltweit mehr als 400 Kernreaktoren. Und dass im ukrainischen Saporischschja, nicht mal 2000 Kilometer von Deutschland entfernt, sechs permanent gefährdete alte Reaktoren stehen, sollte die gegenwärtige Ausstiegsfreude dann doch etwas trüben.

„Ziviler Ungehorsam schaltet Deutschlands Atomkraft AUS!“ kostenlos als Doppel-CD bestellbar oder online abrufbar unter www.lesen-ohne-atomstrom.de