Hamburg. Der Hamburger Medien-Unternehmer Frank Otto ist Mitbegründer von „Lesen ohne Atomstrom“. Was er vom zehnten Jubiläum erwartet.

Die ersten Lesungen mit Nina Hagen und Günter Grass fanden im April 2011 vor dem Atomkraftwerk in Krümmel statt. Grass las aus „Mein Jahrhundert“ die Erzählung für das Jahr 1955, in der ein Abteilungsleiter im Katasteramt aus Atomfurcht im Garten einen Schutzraum baut und dabei ums Leben kommt. Es war der Auftakt von „Lesen ohne Atomstrom“. Zu den Mitbegründern des Festivals gehörte außer Hagen und Grass Medien-Unternehmer Frank Otto. Mit dem Verein Kultur für alle hat er das Festival im Hamburger Kultur-Kalender verankert.

Nachdem es 2021 nur live aus der Akademie der Künste gestreamt werden konnte, freuen sich Otto und Co. zum zehnten Jubiläum umso mehr aufs Publikum in den Theatern und Kulturstätten der Stadt. „Wir haben die Zuschauer vermisst – über zehn Jahre lag die Auslastung durchgängig bei 100 Prozent“, sagt Otto. Getreu seiner Maxime „Wir wollen Kultur für jeden erreichbar machen“ ist der Eintritt vom 1. bis 10. März weiterhin frei. Auch zur Eröffnung mit der Dürrenmatt-Lesung von „Die Physiker“, bei der Festivalsprecher Oliver Neß und Otto an diesem Mittwochabend im Schmidtchen sechs bekannte Schauspieler begrüßen.

Hamburger Abendblatt: Herr Otto, als Sie mit Kultur für alle e. V. 2011, im Jahr der Natur- und Reaktor-Katastrophe von Fukushima, „Lesen ohne Atomstrom“ erstmals veranstalteten, galt dies als bewusster Gegenpol zum traditionsreichen Hamburger Literaturfestival „Vattenfall Lesetage“. Hätten Sie damals gedacht, dass jenes bereits zwei Jahre darauf Geschichte sein würde und „Lesen ohne Atomstrom“ nun sein zehntes Jubiläum feiert?

Frank Otto: Ja. Wir waren gekommen, um zu bleiben – bis zum Atomausstieg. Es war damals ein gemeinsames Projekt von einem Dutzend Aktivisten und Schriftstellern wie Feridun Zaimoglu, Nina Hagen, Günter Grass. Alle waren entschlossen, dass solch ein Kulturmissbrauch, wie ihn die Atomindustrie mit Bürgermeister, Kulturbehörde und ihrem „Medienpartner“ NDR etabliert hatte, nicht sein kann. Diese Seilschaft hat das schnell verstanden – und ist massiv gegen die Autoren und uns alle vorgegangen, sie haben wirklich nichts ausgelassen. Wir hatten nichts anderes erwartet und sind dem robust begegnet. Wir wussten, wie wichtig Politik und Vattenfall mit den zuweilen leckenden und brennenden Atommeilern rund um Hamburg ihr Greenwashing-Event war. Dafür haben sie Millionen investiert. Ihre Berater hatten empfohlen, gezielt auf Literatur zu setzen, um das ramponierte Firmenimage aufzupolieren. Dagegen wirkte „Lesen ohne Atomstrom’“ ziemlich gut.

Weshalb gibt es die „Erneuerbaren Lesetage“ bis heute? Vor allem wegen Ihres großzügigen Mäzenatentums?

Frank Otto: Es gibt dieses faszinierende Engagement von mehr als 350 Autoren und Künstlern aus aller Welt, weil es ihr Festival ist. Sie stehen hier mit ihrer Kunst für eine andere Welt: gegen Gier und Kommerz, gegen Krieg und den atomaren Wahnsinn. Für eine andere Gesellschaft, erneuerbar. Das ist die Motivation, gerade da die Atomlobby jetzt nochmals ein Comeback versucht. Da halten wir konsequent dagegen. Mit Geld, ein bisschen auch von mir, hat das erst mal gar nichts zu tun. Ich bin hier Aktivist, einer von vielen – so wie schon vor 40 Jahren am Bauzaun in Brokdorf. Der größte Mäzen ist das „Lesen ohne Atomstrom“-Team: Das sind die Einlass- und Security-Leute, die Gästebetreuer, Fahrer, Drucker, Grafiker, Medienproduzenten, Fotografen, Regisseure, unser Reisebüro oder der Caterer. Die alle tun das ehrenamtlich. Wir haben keine Personalstelle, kein Büro. Und dann sind da die vielen Theater die ihre Häuser mietfrei stellen. Das alles zusammen macht das hier immer wieder möglich.

Das Motto des neunten, aufgrund von Corona nur live gestreamten Festivals lautete 2021 „Die Niederlage des rationalen Menschen“, benannt nach einem Essay der belarussischen Literatur-Nobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch. Das könnte, mit Blick auf den Ukraine-Krieg, leider auch diesmal gelten – zu Alexijewitschs Themen gehörte außer der nuklearen Verseuchung auch das Leid Millionen Geflüchteter. Wie sehr spielt der Krieg ins Programm hinein?

Frank Otto: Swetlana hat erstmals von der „Niederlage des rationalen Menschen“ in einem unserer „Lesen ohne Atomstrom“--Bücher geschrieben, hat die „Niederlage“ in Tschernobyl gesehen. Und wir alle sehen sie jeden Tag: in Fukushima oder in den unzähligen Kriegen rund um den Globus – auch in der Ukraine, wo erstmals Atommeiler zu Kampfzonen werden. Wir sehen diese „Niederlage“ ebenso an den EU-Außengrenzen, wo jeden Tag Menschen, die vor Krieg, Hunger, Klimawandel fliehen, sterben – weil wir sie wissentlich ertrinken lassen. Da beziehen die Künstler klar Position.

Wo und wie schlägt sich das Jubiläums-Motto nach Hermann Hesse, „Damit das Mögliche entsteht, muss immer wieder das Unmöglich versucht werden“, nieder?

Frank Otto: Wir feiern mit unseren Programmen von jeher die, die so verdienstvoll den ­„Niederlagen des rationalen Menschen“ Protest und Widerstand entgegensetzen – diesmal Lampedusas Ex-Bürgermeisterin Giusi Nicolini und Leoluca Orlando, die Seenotretter Dariush Beigui und Carola Rackete, den im Exil lebenden Antifa-Aktivisten Thomas Walter. Literarisch Dürrenmatt, Hesse, Willemsen, Harlan, Gruen. Alle haben versucht und versuchen weiter, „das Unmögliche möglich zu machen“. „Lesen ohne Atomstrom“ ist das „Unmögliche“ – ein unabhängiges, nicht kommerzielles Festival. Ohne Sponsoren, ohne staatliche Kulturförderung. „Unmöglich“ – aber von ganz vielen „möglich gemacht“.

Wie in der Vergangenheit sind unter den 60 annoncierten Künstlerinnen und Künstlern mit Stammgästen wie Konstantin Wecker, Katja Riemann und Walter Sittler mehr Musiker und Schauspieler. Wie kommt’s…?

Frank Otto: Es sind Top-Autoren dabei, wie immer: Donatella di Cesare, eine der einflussreichsten Intellektuellen unserer Zeit, kommt eigens aus Rom. Simone Buchholz, Tobias Schlegl, Mojib Latif. Nur nicht als klassische Wasserglas-Lesung: Ein Autor liest aus seinem Buch, erzählt wie er so schreibt – das haben wir nie. Unsere Kuratoren bauen immer Bühnenprogramme, in denen die Autoren inhaltlich eingebunden sind. Nehmen Sie die Harlan-Matinee zur Shoah im Esther-Bejarono-Saal am 5. März: ein noch nie aufgeführtes Theaterstück, von uns als Hörspiel mit grandiosen Synchronsprechern arrangiert. Und Feridun Zaimoglu, der gerade zur Holocaust-Aufarbeitung einen Roman geschrieben hat, ordnet das ein. Mit Honorar hat die Teilnahme nichts zu tun. Die Autoren und Künstler kommen zu uns nur aus inhaltlichen Gründen.

Und worauf freut sich der Kultur-für-alle-Vorstand Otto diesmal besonders, und wen hätte der Verein künftig gern mal dabei?

Frank Otto: Gefühlt hatten wir schon fast alles. Dieses Mal ist es wohl einzigartig vielfältig – mit eigenem Buch zum Jubiläum: übers deutsche Atom-„Aus!“. Eine Absage von Künstlern haben wir eigentlich nie bekommen: Nobelpreisträger, Grammy-Gewinner, Ehrenbürger, Autoren mit Millionenauflagen, hochdekorierte Forscher wie Dennis Meadows, der eigens aus den USA kam, oder Großbritanniens „Königlicher Astronom“ Lord Martin Rees. Und alle kommen wieder, wenn wir erneut anfragen. Sogar Japans Ex-Premier Naoto Kan war unser Gast – und ist bis heute für „Lesen ohne Atomstrom“ engagiert. Das war damals ein regelrechter Staatsbesuch, den unser Team wuppen musste. Nun sind wir das zehnte Mal startklar – für zehn Tage Party zum Atomausstieg.

„Lesen ohne Atomstrom“ 1.–10.3., Aufakt mit Friedrich Dürrenmatts „Die Physiker“ (u. a. mit Sophie von Kessel, Michael Rotschopf, Ulrich Noethen) Mi 1.3., 19.30, Schmidtchen, Spielbudenplatz 21/22, weitere Orte: Schmidt Theater, Fabrik, Stavenhagenhaus/Esther-Bejarano-Saal, Lustspielhaus, FC St. Pauli Museum. Zeise-Kinos. Centralkomitee, Einlass jeweils 30 Minuten vor Beginn, Eintritt jew. frei; Programm: www.lesen-ohne-atomstrom.de