Hamburg. Zur Eröffnung des Festivals auf Kampnagel waren Arbeiten zu erleben, die auf zwei spannende, hochpolitische Wochen hoffen lassen.

Selma Selman ist ein regelmäßiger Gast bei „Krass“ auf Kampnagel – schon 2019 zerlegte die Künstlerin bei dem vor zwölf Jahren als Plattform für postmigrantisches Theater gegründeten Festival eine Luxuslimousine. Mittlerweile hat „Krass“ das Postmigrations-Label abgelegt, Selman ist zum international gefeierten Kunststar geworden, aber weil Festivalkurator Branko Šimić persönliche Bindungen pflegt, eröffnet sie auch die aktuelle Ausgabe, die unter dem programmatischen Titel „Ost“ steht.

Autos macht sie diesmal keine kaputt, dafür einen riesigen Milchtank: Ihre Performance auf der Kampnagel-Plaza nennt sich „The 600 Years of Migrating Mothers“, von der Mutter zur Milch ist der Weg nicht weit, und entsprechend wird dem Stahl-Ungetüm mittels Äxten, Flex und Winkelschleifern zugesetzt, verstärkt durch Operngesang, Kinderensemble und wütende Elektrobeats.

„Krass“-Festival: Ohrenbetäubende, schweißtreibende Radikalperformance

Nach knapp zwei Stunden ohrenbetäubender und schweißtreibender Radikalperformance ist der Tank in zwei Hälften (und unzählige Metallreste) zerteilt: Ost und West, ordentlich voneinander getrennt. Und das Publikum zieht weiter in die Halle, wo Adnan und Nina Softić ihre Performance „Witnesses of Non-Existence“ zeigen.

Die besteht zunächst aus einer musikalischen Lesung, in der Softić eine erweiterte Fassung seines 2015 in der „Zeit“ veröffentlichten „Plädoyer für die Balkanisierung“ vorträgt: ironisch, tastend, ein Märchenonkel mit Vogelmaske, der mit sonorer Stimme von einer Weltregion erzählt, die einem gleichzeitig vertraut und fremd wirkt.

Der zweite Teil von „Witnesses of Non-Existence“ besteht aus einer Installation

Der Balkan erscheint in Softićs Beschreibung als Gegend, die einerseits all die Verwerfungen der europäischen Geschichte in sich vereint und andererseits die Antithese zum europäischen „Einheit in Vielfalt“-Leitspruch in sich trägt, eine Region, die aus den Trümmern von Osmanischem und Habsburgerreich entstanden ist und die mit Jugoslawien kurz eine multikulturelle Utopie beherbergte. Die freilich in den Jugoslawienkriegen der 90er grausam scheiterte – wobei Softić betont, dass dieses Scheitern nicht im Multikulturalismus begründet lag, sondern im Wiedererstarken von Nationalismus und Regionalismus. Entwicklungen, die man auch im gegenwärtigen Europa erkennen kann.

Der zweite Teil von „Witnesses of Non-Existence“ besteht dann aus einer Installation. Man wandert auf der Kampnagel-Bühne umher und schaut insgesamt sieben Filme, die von einer zerfallenden Welt erzählen: In „Crveni Soliter“ geht es um ein Hochhaus im bosnischen Prijedor, das 1975 als Mikrokosmos des jugoslawischen Multikulturalismus errichtet wurde und im Krieg von Heckenschützen genutzt wurde, in „Bigger than Life“ um die postmodern-nationalistische Neugestaltung der nordmazedonischen Hauptstadt Skopje, in „The Green Line“ um die Grenze zwischen Nord- und Südzypern. Und im Filmessay „Das stille Weben des Geistes“ untersucht die Schauspielerin Mateja Meded als trauriger Harlekin die Bedeutung des Nobelpreisträgers Peter Handke für den serbischen und europäischen Nationalismus.

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„Witnesses of Non-Existence“ erweist sich so als vielstimmige, mal humorvolle, mal erschreckende Studie über ein Europa, dessen (selbst-)zerstörerische Tendenzen schon vor 30 Jahren sichtbar waren. Und es sorgt dafür dass der „Krass“-Blick nach Osten auch ein Blick auf die eigene Gegenwart ist. Als Festivaleröffnung lassen die beiden Arbeiten von Selman und Softić jedenfalls auf zwei spannende, hochpolitische Wochen hoffen.

„The 600 Years of Migrating Mothers“ und „Witnesses of Non-Existence“wieder am 7. April, 16 Uhr, 9. und 10. April, 18 Uhr, Künstlergespräche Adnan und Nina Softić am 9. April, Selman Selman am 10. April, jeweils um 19 Uhr, Krass-Festival bis 21. April, Kampnagel, Jarrestraße 20, Tickets unter 27094949, www.kampnagel.de