Hamburg. Branko Šimić hat vor zehn Jahren das Krass-Festival erfunden. Vor 30 Jahren floh er aus Bosnien: „Das kommt alles wieder hoch.“

Seit zehn Jahren gibt es auf Kampnagel das interkulturelle Krass Kultur Crash Festival. Der Hamburger Regisseur Branko Šimić hat es erfunden. Ein Gespräch über die künstlerische Reise - und Erinnerungen an die eigene Flucht vor 30 Jahren aus Bosnien vor dem Krieg in Ex-Jugoslawien. Der Ukraine-Krieg setzt ihm heute zu: „Das kommt natürlich alles wieder hoch.“

Hamburger Abendblatt: 10 Jahre Krass-Festival. Was denken Sie angesichts des Jubiläums? Ihr Motto lautete damals ja „Wir wollen Deutsch mit Akzent salonfähig machen"…

Branko Šimić: Der Satz hat sich schon bewahrheitet. Es haben sich starke Stimmen entwickelt, die alternative und oft unsichtbare Perspektiven ermöglichen. Zum 10jährigen Jubiläum wollen wir den besonderen Blick von Migrantinnen und Migranten auf die deutsche Gesellschaft und Europa insgesamt präzise formulieren. Es geht um die Ansicht von innen und auch von außen. Wir lieben Akzent, weil er eine hörbare Identitätsschicht ausmacht.

Was ist gut gelaufen, was vielleicht weniger gut?

Šimić: Wir sind als eine Plattform gestartet, die Außenseiter ins Rampenlicht stellt, wollten aber schon damals keine Trends bedienen. Deshalb haben wir Begriffe wie ‚postmigrantisch‘ sehr selten benutzt. Der Untertitel ‚Kultur Crash‘ stand für mich im Vordergrund. Das ist etwas, das unabhängig ist von Trends. Wir sind mit den Jahren größer, professioneller geworden. Ich bin ja eigentlich Regisseur und wurde dann Festival-Leiter. Bis heute betrachte ich das Festival wie eine große, zweiwöchige Inszenierung.

Welche Schwerpunkte setzen Sie in dieser Ausgabe. Es gibt ja sogar ein Musical?

Šimić: Laibachs Projekt ist eher ein Anti-Musical. Als Nicht-Deutsche oder Neu-Deutsche wollen wir uns mit dem Phänomen Deutschland beschäftigen, einem Land, das sich rasend schnell entwickelt. In Krisen kann man eine Gesellschaft sehr gut spiegeln und reflektieren. Jetzt kommen Geflüchtete so wie ich vor 30 Jahren zu Wort. Es gibt mehr Platz in der Öffentlichkeit für diese Themen. Der Dichter Joseph Brodsky hat einmal gesagt, der Blick eines Geflüchteten sei ein poetischer Blick. Er nehme eine Gesellschaft auf eine fiktive Weise war.

Es ist für jeden unmöglich, die deutsche Realität im Ganzen zu verstehen. Wenn man aber als Fremder vieles nicht verstehen oder einordnen kann, komplettiert man das Bild mit Fantasie. Da beginnt die Kunst. Da wollen wir ansetzen, affirmativ sein, auch kritisch sein. Auf der einen Seite sehen wir hier eine stabile Demokratie, eine offene Kommunikationsmöglichkeit und eine sehr entwickelte Kulturlandschaft. Auf der anderen Seite stehen die NSU Morde und Hanau. Beide Realitäten existieren nebeneinander. Wir wollen einen konstruktiven Beitrag leisten, wie man die Gesellschaft weiterdenken kann.

Sie zelebrieren ein ‚3-Gänge-Menü Deutschland‘. Was hat es damit auf sich?

Šimić: Wir wollen die zehn Jahre mit einem performativen Empfang feiern. Es geht um drei Gänge und die Frage, was ist positiv, was ist kritisch und als Dessert die Frage, wie können wir eine Perspektive für die Zukunft entwickeln? Wir haben prominente Gäste, Soziologen, Akademiker, die in einer Salon-Atmosphäre über Integrationsprozesse und Gesellschaft reden. Im Menü sind auch Chili Körner versteckt, die an die Schmerzhaftigkeit der Integrationsprozesse erinnern. Der gastronomische Aspekt von Integration ist ja extrem gelungen. Dabei hat die internationale Küche das deutsche Essen verändert. Ein Kultur-Crash. Wir versuchen, daraus ein Spiel zu machen.

Sie kamen selbst 1992 aus dem Jugoslawienkrieg aus Bosnien nach Hamburg. Was geht Ihnen durch den Kopf, wenn Sie heute auf die Ukraine blicken?

Šimić: Das kommt natürlich alles wieder hoch. Gerade jährte sich der Kriegsbeginn in Bosnien zum 30. Mal. Es ist schrecklich. Ich habe damals in Sarajewo Schauspiel studiert und war voller Energie, aber für mich war es ähnlich wie für die Menschen aus der Ukraine heute oder vor sieben Jahren für die Menschen aus dem Nahen Osten. Der Krieg annulliert jede Kreativität und jede Kunst. Die Brutalität des Kriegs stellt die Kunst infrage. Wir können jetzt nicht von ukrainischen Künstlern erwarten, dass sie Projekte machen, weil die Realität viel brutaler ist. Aber perspektivisch ist es möglich und dringend notwendig. Ich habe viele Projekte über den Krieg gemacht, mein Kriegstrauma auf der Bühne hinter mir gelassen. Das ist etwas, das Kunst kann.

Welchen Rat würden Sie ukrainischen Künstlerinnen und Künstlern geben?

Šimić: Ich glaube, man muss sie in Ruhe lassen. Da ist eine Menge Wut in ihnen und viele haben Schlimmes erlebt. Die spüren schon, wo ihr Ventil sein könnte. Unsere Aufgabe ist es, ihnen Möglichkeiten und Infrastruktur zu bieten.

Vor welchen Hindernissen standen Sie damals? Was würden Sie vielleicht heute anders machen?

Šimić: Ich habe drei Jahre nach der Flucht das Studium der Theaterregie in Hamburg angefangen. Das war entscheidend. Es war damals absolut ungewöhnlich, dass ein Ausländer und Flüchtling an so einer Uni so ein Fach studiert. Ich habe eine Chance bekommen. Das Krass Festival bietet auch Chancen an. Dabei sind Hindernisse immer auch gut für die Kreativität.

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  • Wie blicken Sie heute auf Ihre alte Heimat. Auch in der Region kommen alte Nationalismen wieder hervor. Ist der Spuk von damals noch immer nicht verflogen?

    Šimić: Die Geister sind nie weg gewesen. Der postkommunistische Nationalismus ist super extrem und super brutal. Weil die Leute eine Ideologie durch eine andere ersetzen. In Russland erleben wir das gleiche Szenario wie in Ex-Jugoslawien. Der Nationalismus hat sich zu einem ideologischen Vakuum entwickelt. Jetzt kommt das aus Russland wie ein Bumerang zurück. Wie damals Milosevic und die serbischen Nationalisten den Bosniern, spricht auch Putin der Ukraine das Existenzrecht ab. Da beginnt Krieg. Da werden absurde geschichtliche Konstrukte bemüht, die nur durch einen extremen Nationalismus motiviert sind.

    Das hat mit Patriotismus nichts zu tun. So lange wir uns von dem Nationalismus nicht emanzipieren, werden wir ein Problem haben und das wird meiner Meinung nach lange dauern. Was wir brauchen ist eine neue Idee, ein neues Konzept. Da kann Kunst mitdenken.

    Krass Kultur Crash Festival 27.4. bis 8.5., Kampnagel, Jarrestraße 20-24, Karten unter T. 27 09 49 49; www.kampnagel.de