Hamburg. René Jacobs präsentiert die rekonstruierte Urfassung von Bizets Publikumsliebling halbszenisch. Es ging schon überraschend los.

Für etwa drei „Carmen“-Stunden wurde die Elbphilharmonie zum halbszenischen Musikwissenschaftsseminar mit Eins-a-Anhörungsmaterial: Keine „Habanera“ der männerverstörenden Rauchwarenherstellerin als ersten großen Publikumsliebling kurz nach der Ohrwurm-Ouvertüre, damit ging es schon mal überraschend los. Es folgten deutlich mehr gesprochene Texte, die jeden dieser Opern-Charaktere in anderes Licht stellen und das Erzähltempo und den Tonfall des Stücks drastisch beeinflussen. Melodram-Szenen, Striche und Änderungen, Unbekanntes und Hochinteressantes.

„Never change a winning opera“, könnte eine Leitlinie für Musiktheateranbieter heißen, neben Verdis „Aida“ und Puccinis „Bohème“ ist Bizets „Carmen“ ein scheinbar über alle Zweifel erhabenes Drittel des ewigen Hit-ABCs. Jetzt erst recht, hatte sich René Jacobs dazu gedacht und kam ins Handeln. Historisch informiert und aufklärend, hat der Ex-Sänger und Dirigent sich in den vergangenen Jahrzehnten von der Renaissance über Barock und Klassik immer weiter Richtung Jetztzeit vorgeforscht, energisch die Quellenlage ausgeleuchtet und für die Rehabilitation überarbeiteter Erstfassungen plädiert.

Elbphilharmonie: Keine „Carmen“ von der Stange

Nachdem er schon Großartiges für Beethovens zu Unrecht unterschätzte „Fidelio“-Vorgängerin „Leonore“ und später für Webers „Freischütz“ geleistet hat (beide Produktionen gastierten in der Elbphilharmonie), kam nun auch Bizets „Carmen“ auf seinen Restaurierungsprüfstand. Bizet hatte das Stück 1874 auf Druck des Pariser Theaters und erst recht der nörgelnden Premieren-Diva massiv gestrafft – und dadurch klassisch verschlimmbessert. Nur zur Einordnung von Jacobs‘ Entdeckerfreude: 1874 war schon das Geburtsjahr des späteren Zwölftöners Arnold Schönberg.

Der Rauswurf der Femme-fatale-Habanera mit ihren Sevilla-Folklore-Klischees war mühelos zu verschmerzen, denn die Urtext-Arie ist eine stolze, ganz anders charakterisierende Forderung nach selbstbestimmter Freiheit. Hier ist die Liebe noch „ein Kind der Bohème“, später wird daraus nur „ein widerspenstiger Vogel“. Gaëlle Arquez, eine glühend leuchtende Mezzostimme, hatte damit ihren ersten von vielen beeindruckenden Auftritten. Sie gab sich in dieser Rolle nicht bilderbuchverrucht, sie sang mit stringenter Eigenwilligkeit und bühnenfüllendem Charisma.

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Ende mit Schrecken: François Rougier hat als Don José gerade auf offener Bühne Carmen (Gaëlle Arquez) ermordet.
Ende mit Schrecken: François Rougier hat als Don José gerade auf offener Bühne Carmen (Gaëlle Arquez) ermordet. © Daniel Dittus | Daniel Dittus

Überhaupt, das gesamte, konsequent muttersprachlich besetzte Gesangs-Ensemble war, wie es bei Jacobs eiserne Regel ist, handverlesen und passgenau den historischen Forderungen entsprechend. Sensationell, wie gut es der „Ur-Carmen“ tut, wenn der Orchesterklang kundig entschlackt wird. Das B’Rock Orchestra – der Name zeigt auf die stilistische Heimatregion – produzierte unter Jacobs‘ detailpenibler Leitung einen sehnigeren, durchsichtigeren, kamermusikalischer ausgerichteten Klang als gewohnt. Mit Naturhörnern, knackigem Schlagwerk, schmaler mensurierten Holzbläsern und überschaubarem Streicher-Personal war man oft der subtilen Eleganz von spätem Mendelssohn näher als dem ausgebreiteten Opernspektakel.

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Die beiden männlichen Hauptrollen glichen sich diesem Timbre angenehm an: François Rougier war ein Don José, der seine lyrischen Momente betonte und nutzte, Thomas Doliés Escamillo ein weniger testosteronbetankter Torero, als man ihn gewohnt ist. Jacobs‘ Lautstärke-Disziplin hatte außerdem zur Folge, dass die Textverständlichkeit nicht nur bei den Solisten, sondern auch in den Massenszenen mit dem exzellenten Chœur de Chambre de Namur klar blieb. Herzensgutes Gegenstück zu tragisch endenden Carmen ist und blieb auch hier Micaëla, für die Sabine Devieilhes feinsilbriger Sopran eine Idealbesetzung darstellte. Sehr viel Schönes also. Eines aber wurde konsequent nicht gegeben: eine „Carmen“ von der Das-haben-wir-immer-so-gemacht-Stange.