Hamburg. René Jacobs bringt mit dem Freiburger Barockorchester Beethovens unterschätzte „Leonore“ in die Elbphilharmonie.

Keine Chöre auf der Bühne erlaubt, wegen Corona, und gekürzt werden muss für die konzertanten Aufführungen in der Elbphilharmonie auch. Die Frustration über diese einschneidenden Maßnahmen ist René Jacobs anzuhören. Andererseits gehört es offenbar zum Schicksal von Beethovens Oper „Leonore“, dass viele ihr das Leben schwer gemacht haben, angefangen beim Komponisten selbst.

Anfang 1806, wenige Monate nach der ersten Version, legte er im Theater an der Wien eine zweite „Leonore“-Fassung vor, und als das Stück 1814 im Kärnertortheater auf die Bühne kam, hieß es „Fidelio“, war drastisch anders und vom Drei- zum Zweiakter geworden. Und galt, obwohl von Beethoven, als: schwierig. Unausgegorene Handlung, unhandliche Musik. So wird der zweieiige Zwillingsbruder bis heute gern eingeschätzt. Der Erstling? Gar nicht der Mühe wert.

Gestutzte „Corona-Fassung“

Ein Pauschalurteil, das den auf Ausgrabungen und Image-Korrekturen abonnierten Dirigenten Jacobs mächtig ärgert. Auch ein früher Rehabilitierungsversuch durch Richard Strauss 1905, zum 100. von „Leonore“ in Berlin, blieb eher folgenlos, berichtet Jacobs. Großes Erstaunen habe es gegeben, damals, aber danach: zurück mit ihr in die Nische.

Doch für Jacobs ist „Leonore I“ am dichtesten an der Grundidee des Dramas, am Singspiel-Charakter. „Die Struktur der drei Akte lässt zu, dass dieses leichtere Element überwiegt.“ Der „Fidelio“-Beethoven sei ein anderer Mensch gewesen als der jüngere „Leonore“-Beethoven, „und meine Meinung ist, dass er sich für das Stück auch nicht mehr so interessierte. ,Leonore‘ ist ein Meisterwerk geworden, die übliche ,Fidelio‘-Fassung ist weniger als ein Meisterwerk.“ Ihm fehlen der Erfindungsreichtum, die reichere Dramaturgie. Blöd also, dass es nun in Hamburg nur eine gestutzte „Corona-Fassung“ geben kann.

Spezialisten statt Alleskönner-Klangkörper

Wie bei etlichen anderen seiner Opern-Projekte hat Jacobs auch für das Beethoven-Sorgenkind mit einem seiner bevorzugten Ensembles aus der Alten Musik gearbeitet, dem Freiburger Barockorchester (FBO). So entstand eine mit Auszeichnungen überhäufte, rasant schnelle Einspielung, die zum Besten gehört, was das Beethoven-Jubiläumsjahr hervorgebracht hat.

Warum diese Spezialisten und nicht ein modernerer Alleskönner-Klangkörper wie die Wiener Philharmoniker? „Mit solchen Ensembles wie dem FBO gibt es ein viel größeres Gefühl von Abenteuer“, findet Jacobs, „die spielen die Musik, als ob sie neu ist. Und dann das Instrumentarium, bei dem vor allem die Bläser eine Farbe mitbringen, die viel überraschender ist und viel mehr an die Natur gebunden ...“ Kein Vergleich also. Die große Arie von Leonore beispielsweise sei in der ersten Fassung noch größer, „alles ist in der ersten Fassung größer“, da seien die Horn-Partien „so was von schwierig“, dass man bei Natur-Hörnern eine Art von Gefahr hören könne. Was Leonore an dieser Stelle der Handlung tut, sei lebensgefährlich, „und Beethoven möchte, dass die Arie genauso lebensgefährlich klingt“.

Fast unsingbare Koloratur

Weitere Beethoven-Klischees: Er konnte nicht für Stimme schreiben – obwohl er zahlreiche Lieder aufs Feinste komponierte –, und Oper konnte er auch nicht, obwohl oder eher: weil er sich an etwa 50 Stoffen versucht hatte. Auch da ist Jacobs’ Meinung eindeutig: „Das ist eine fixe Idee. Eine Tatsache ist, dass er nicht nur für die menschliche Stimme, sondern auch für Instrumente bis zum Äußersten der Schwierigkeiten geht. Wenn es in der Vokalmusik wirklich sauschwer zu singen wird, hat es immer einen Sinn.“ Am Ende von Leonores Arie über Gefahren in der Unterwelt käme in der ersten Fassung eine fast unsingbare Koloratur, die fehle in der dritten Version dann ganz.

Gibt es für Jacobs noch mehr im Beethoven-Werkkatalog, was eine erste, zweite, dritte Chance verdient hätte? „Die C-Dur-Messe, die würde ich sehr gern machen.“ Und bei der dramatischen Musik reize ihn die „Egmont“-Bühnenmusik. Doch als Nächstes, falls Corona nicht wieder dazwischenkommt, steht im Frühjahr Webers „Freischütz“ im Kalender. Der Wunschtraum: „Ein Stück, das mir zusagt – Sie werden staunen – ist ,Carmen‘.“ Auch von der gebe es mehrere Fassungen.

Konzerte: 14./16.10., jeweils 20 Uhr. Elbphilharmonie, Großer Saal, eventuell Restkarten