Hamburg. So lange war vor ihr nur einer Opernintendant: Rolf Liebermann. Simone Young im Gespräch über Erfolge und Misserfolge.

Das Bücherregal im Intendantenzimmer der Staatsoper leert sie Band für Band, manches davon geht ins Reisegepäck für den langen Sommer. Simone Young, scheidende Intendantin und Generalmusikdirektorin der Stadt, wirkt froh, gelöst, aktiv und mit sich im Reinen. Und um ihre Zukunft muss sie sich keine Sorgen machen. Bis 2018 ist sie ausgebucht.

Simone Young: Dieses Summen von der Baustelle da draußen, das macht einen fertig. Leider geht es auch nicht weg, wenn ich alle Fenster zumache. Hören Sie’s? Der Ton ist ein schlechtes Ges. (Geht zum Klavier und schlägt ein Ges an, das minimal unter dem Summton liegt.) Und was ich gerade probe, „Simon Boccanegra“, ist in Es-Dur. Autsch.

Hamburger Abendblatt: Auf der Feier nach Ihrer letzten Hamburger Premiere, „la bianca notte“, waren Sie hinsichtlich Ihres nahenden Abschieds ungemein pragmatisch und unsentimental.

Young: Na, so ein unendlicher Abschied ist ja auch wirklich peinlich. Ich gehe zwar aus Hamburg weg, aber für mich ist das kein Schlusspunkt. Es ist nur der Abschluss einer Zeit. Manchmal reden die Leute, als ob ich jetzt in Rente gehen oder mich völlig zurückziehen würde. Und Kent Nagano hat mich schon eingeladen zurückzukommen. Wir kennen uns seit 20 Jahren. Wir sind beide längst übereingekommen, dass es besser ist, nach meinem Abgang erst mal ein bisschen Luft zu lassen. Aber dann komme ich gern mal wieder für ein Konzert zurück.

Was ist mit dem NDR Sinfonieorchester, jetzt, wo Sie frei sind? Sie schauen, als sei das längst besprochen ...

Young: Der Witz ist, dass der NDR mich schon vor zwölf Jahren für ein Konzert angefragt hat, just als ich mich für die Oper verpflichtet hatte. Die Einladung steht noch. Wir sind im Gespräch.

Über ein Gastdirigat in der Elbphilharmonie?

Young: Ja. Ich bin jetzt 54, und wenn es fünf Jahre dauern sollte, wäre ich eigentlich immer noch jung für meinen Beruf. Ich würde mich freuen, wenn es nicht so lange dauert. Aber meine erste Loyalität in Hamburg bleiben die Philharmoniker und die Staatsoper. Wobei ich hoffe, eines Tages in der Luxusposition zu sein, sowohl die Philharmoniker als auch das NDR Orchester zu dirigieren, wie viele Kollegen das auch tun.

Gehen Sie echt ohne Sentimentalität?

Young: Klar sind da Gefühle. Zehn Jahre sind eine lange Zeit. Meine jüngere Tochter ist hier groß geworden, sie schreibt gerade ihr Abitur. Für die Familie waren diese zehn Jahre sehr gut, auch für den Beruf. Wenn ich anderswo bin, sagen die Leute immer, dass sie so viel Gutes aus Hamburg hören. Man kann hier sehr angenehm wohnen, und es ist wahnsinnig viel los. Die Stadt ist ambitioniert, und das ist gut so.

Haben Sie die Stadt geprägt?

Young: Wie soll ich das beantworten, ohne mir dabei selbst auf die Schulter zu klopfen? Ich weiß es nicht. Man verbindet meinen Namen mit Hamburg, und eine Verbindung wird bleiben: die zur Musikhochschule. Ich habe da eine Ehrenprofessur, und die wollen wir etwas ausbauen, etwa mit ein paar Meisterkursen. So bin ich nicht ganz von der Stadt abgenabelt.

Hat die Stadt Sie geprägt?

Young: Ja. Ich habe hier gelernt, den Menschen mehr zu vertrauen. Ich mag sehr, wie direkt und ehrlich die Hamburger handeln. Es dauert manchmal unwahrscheinlich lange, bis man etwas durchbekommt, aber wenn man erst mal eine Zusage hat, dann gilt sie auch. Das ist wirklich nicht überall so und passt mir sehr, denn ich bin auch ein sehr gerader Mensch. Manchmal denke ich, Hamburg weiß selbst nicht, was es da Besonderes an sich hat. Das hängt sicher mit der kaufmännischen Tradition zusammen, mit dem Bürgertum, aber das ist sehr lobenswert.

Was für andere Lernerfahrungen nehmen Sie aus Hamburg mit?

Young: Was ich schnell lernen musste: Jede Stadt hat ihre speziellen Neigungen und Vorlieben hinsichtlich des Repertoires. Manchmal kommt das völlig überraschend. Wie unser Britten hier angenommen wurde, hat mich völlig überwältigt. So eine Reaktion hatte ich nicht erwartet. Dass unser Strauss hier nicht so wunderbar ankam, hat mich auch überrascht. Wenn ich in München oder Wien Strauss dirigiere, ist das Haus immer voll und es gibt Standing Ovations. Hier war die Reaktion eher kühl. Dass eine Stadt ihre eigene Persönlichkeit auch dadurch zum Ausdruck bringt, wie ein Publikum reagiert – das musste ich erst lernen.

Was bleibt als schönste Erinnerung ?

Young: Oh, sehr vieles! Zuerst unser Bruckner-Zyklus. Jedes einzelne Konzert davon war eine Offenbarung, ich glaube, auch fürs Orchester. Egal, was wir sonst gemacht haben, bei Bruckner fanden wir uns immer wieder. „Death in Venice“, überraschenderweise; ich fand immer, dass es ein super Stück ist, aber dass es so tief unter die Haut gehen würde, hatte ich nicht erwartet. Dann unsere Australienreise und wie unser Orchester da gefeiert wurde. Der konzertante „Rheingold“, der konzertante „Lohengrin“ in Edinburgh. Die Reisen waren echte Höhepunkte.

Wie geht es für Sie weiter, wenn Sie hier Ihren letzten Takt dirigiert haben ?

Young: Ich gehe zwei Monate nach Australien. Sechs Wochen davon gebe ich Konzerte, die ersten zwei Wochen sind frei. Am Anfang verbringe ich eine halbe Woche allein in einem Zelt in einem Naturschutzgebiet. Ohne Handy, ohne Internet. Nur Natur.

Gehen Sie auf Visionssuche?

Young: Ich bin in Westaustralien, ganz oben am Riff, da gibt es einen kleinen Ort mit neun Zelten. Die kochen ausschließlich mit Zutaten aus der Region, ansonsten gibt es 20 Liter Wasser am Tag für den persönlichen Bedarf. Alles öko. Man läuft hundert Meter, und schon ist man im Meer, bei den Schildkröten. Bei dieser Verbindung zur Natur puste ich den ganzen Stress der letzten Zeit aus. Aber leider nur drei Tage.

Mit Ihrem Orchester, den Philharmonikern, hat es öfter mal ganz schön geknirscht. Gab es Phasen, wo Sie dachten, jetzt reicht’s, ich mag nicht mehr?

Young: Ach, solche Phasen gibt es immer wieder. Da muss man sich dann auf das konzentrieren, was das Wichtigste ist. Und das Wichtigste ist die Musik. Da findet man sich immer.

War Bruckner Ihr Heilmittel auch in Krisen mit dem Orchester?

Young: Immer wieder Bruckner. Auch Wagner, Verdi, da hat man sich immer wiedergefunden. Dass es zwischendurch mal kracht zwischen Orchester und Chef, das gibt es überall. Und die letzten Jahre jetzt waren wirklich super, die Konzerte, die Opern. Was dieses Orchester schafft, ist wirklich einmalig. In der europäischen Landschaft kenne ich kein zweites Orchester, das diese Vielfalt hat und diese Arbeits­intensität bewältigen muss. Wenn ich mir eine Sache für die Zukunft des Orchesters wünschen dürfte, dann mehr Luft. Die sind fast immer am Limit. Das liegt auch an dem Druck, im Haus immer aktiv sein zu müssen, weil wir so von den Einnahmen abhängig sind.

Wird das Orchester Sie vermissen?

Young: Ach, das weiß ich nicht. Kann sein, dass sie sich erst mal befreit fühlen. Die Alte ist aus dem Haus. Aber so nach und nach sagen sie vielleicht: Es war doch ganz schön.

Was ist Ihnen in Hamburg nicht so gelungen ?

Young: Vom Kartenverkauf her würde man meinen, das Zeitgenössische sei hier nicht so gut angekommen. Aber von der Konzentration und Begeisterung der Leute her, die in den Vorstellungen waren, kann ich dem nicht zustimmen. Ich müsste hier auch mit zwei verschiedenen Hüten reden, dem der Dirigentin und dem der Intendantin.

Reden Sie mit beiden Hüten.

Young: Als Intendant gab es einiges, das nicht so gelungen war, „Frau ohne Schatten“ oder „Don Giovanni“. Das liegt an mehreren Faktoren, und sicher bin ich einer davon. Aber über zehn Jahre ist das keine schlechte Quote.

Und als Dirigentin?

Young: Nach den ersten paar Jahren habe ich deutlich weniger Repertoireaufführungen dirigiert. Mein Bedarf nach mehr Probezeit hat zu gewissen Spannungen geführt, weil ich nicht das bringen konnte, was ich haben wollte. Ich habe mich dann mehr auf Wagner, Verdi, Britten fokussiert. Und auf das Zeitgenössische. In diesen Fächern war ich dann auch sehr erfolgreich. Ich schaue zurück auf zehn Jahre und bin sehr glücklich mit dem Ergebnis. Es wird anderswo sicher anders bemessen, aber ich glaube, richtig erst in fünf Jahren.

Sind Sie in Ihrer Hamburger Zeit zu einer besseren Dirigentin geworden?

Young: Auf jeden Fall. Ich glaube, das kommt aus der konsequenten Zusammenarbeit mit einem Klangkörper in einer gewissen Akustik. Da arbeitet man auch sehr viel an sich selbst. Ich bin in den letzten zehn Jahren viel ruhiger geworden, vor allem in den letzten fünf Jahren. Ich bin immer noch ziemlich emotional beim Dirigieren, aber viel ruhiger in der Vorbereitungsphase. Das ist gut, denn mit so viel Temperament kriegt man früh einen Herzanfall.

Können Sie sich vorstellen, noch mal irgendwo eine Intendanz zu übernehmen?

Young: Man soll ja niemals nie sagen. Ich weiß ganz genau, dass in dem Moment, wo ich sage, das werde ich nie wieder tun, ein Angebot auf den Tisch kommt, bei dem ich nicht Nein sagen kann. Ich feiere jetzt 30 Berufsjahre, wenn ich gesund bleibe, müsste ich eigentlich noch 30 Jahre vor mir haben.

Wie möchten Sie den Hamburgern in ­Erinnerung bleiben?

Young: Ich glaube, die Hamburger haben sehr begrüßt, dass ich anders war. Die Tatsache, dass eine damals jüngere Australierin hier aufgetaucht ist und sich so etwas zugemutet hat, das haben die Hamburger geschätzt. Manche waren vielleicht skeptisch, ob es gut gehen würde, manche sind es vielleicht bis jetzt geblieben. Aber ich erlebe nahezu jeden Tag, dass ich irgendwo in einem Café sitze und jemand zu mir kommt und sagt: Wir werden Sie so vermissen, wir beweinen Sie jetzt schon. Das ist ein schönes Gefühl.